Sonntag, 22. Dezember 2013

Kostbares tragen



Predigt am 1. Christtag 2013 (25.12.13)

Fliehen
Zerschlissene Kleider. Ausgemergelte Gesichter. Barfuß. Zusammengepfercht zu Hunderten. In alten Zelten, in notdürftig aufgebauten Hütten, in Sammellagern. Bilder von Flüchtlingen, ob in Syrien, vor Lampedusa oder auf den Philippinen. Und mit ihnen auch die Bilder, warum sie fliehen mussten, die Bilder von Krieg, von Gräuel, von Naturkatastrophen. Die Flucht: notgedrungen, überstürzt, ungeordnet, mit letzten Hab und Gut, ohne alles, mit dem Tod anderer im Kopf und mit dem eigenem Leben in der Hand als letzter Ausweg: irgendwohin, nur weg, weg vom Unheil.
Und die Flucht hat im Aufnahmelager, hat auf dem Schiff im Mittemeer, hat in den Übergangswohnheimen kein Ende. Sie setzt sich fort, in unseren Köpfen, in unserem Geldbeutel, in Fragen, ob all die Flüchtlinge aufgenommen werden können, wo sind denn alle wohnen können, wie wird das bezahlt. Die Flucht setzt sich fort in den Flüchtlingen, sie setzt sich fort mit solchen Fragen, mit dem mühseligen, schwierigen Versuchen, in der Fremde bei Menschen, die anders denken, glauben, leben, Fuß zu fassen, anzukommen, sich zurechtzufinden, so etwas wie Heimat zu suchen.
Manche von Ihnen waren auch schon mal auf der Flucht. Vor fast 70 Jahren und Ihnen steckt noch im Kopf und in der Seele, dass Sie fliehen mussten, dass sie vertrieben wurden, dass sie hin- und hergeschoben wurden, bis endlich erst dort und dann hier wieder ankamen und nach und nach heimisch wurden. Neben Ihnen und denen, die aus der ehemaligen DDR flüchteten, kennen wir Flüchtlinge und Flucht bei uns eigentlich nicht. Vielleicht sind wir ab und zu noch als Kinder vor irgendetwas geflüchtet, aber das schon länger nicht mehr. Heute muss man eher seinen Mann oder seine Frau stehen, aushalten, sich durchboxen, die Ellenbogen benutzen und zum Angriff übergehen. Fliehen, Wegrennen, Davonlaufen tun wir aber trotzdem, innerlich, nach innen hinein, emigrieren, verkriechen, verstecken, stumm sein. Vielleicht ist der Mensch doch ein Fluchttier.

Geflüchtet
Das Jesuskind ist auch geflüchtet. Es wurde sozusagen geflüchtet. Kurz nach seiner Geburt konnte es selbst nicht fliehen. Im Traum hat es der Engel seinem Vater gesagt und Josef nahm das frischgeborene Kind, packte es ein, legte es vielleicht auf einen Esel und floh mit ihm, nein floh für ihn; er floh mit ihm vor Herodes, der in Jesus einen neuen konkurrierenden König sah und ihn aus dem Weg räumen wollte. Die junge Familie flüchtete nach Ägypten, ausgerechnet in das Land, aus dem das Volk Israel geflüchtet war, das Land, das Gefangenheit und Knechtschaft bedeutet. Heimat sieht anders aus. Als Herodes, der Kindermörder selbst gestorben war, kehrten Josef, Maria und Jesus wieder zurück und kamen nach Nazareth, von wo sie vor der Geburt Jesu aufgebrochen waren.
Jesus war gleich nach seiner Geburt ein Flüchtling. Seine Flucht gehört zu seiner Geburt und zu unserem Weihnachten. Aufhören, weiter zu erzählen, weiter zu hören, ausblenden geht nicht. Die Fluchtgeschichte Jesu gehört dazu, wie die Bilder der Flüchtlingen, die Flüchtlinge selbst dazugehören zu unserem Weihnachten. Das Heil ist doch nicht auf unser Weihnachten beschränkt, es kennt keine Schranken. Alle Flüchtlinge, alles, was auch in uns fliehen muss, möchte, hat Anteil an der einen Fluchtgeschichte Jesu, so wie an seiner einen Geburtsgeschichte:

In bitteren Gesichtern Jesus sehen
Jesus muss flüchten. Sein Leben wird bedroht. Von Herodes. Warum lässt Gott seinen Sohn gefährdet sein? Warum legt er auf unser Weihnachtsfest diesen Todesschatten? Ein Warum an Gott, das sich durchzieht bis an Kreuz von Jesus, das sich auch stellt, wenn Krieg, Hunger, Katastrophen, Unrechtregime Menschen nach dem Leben trachten und sie zur Flucht treiben.
Es ist eine Teil-Flucht Gottes mit all diesen, eine Teil-Ohnmacht Gottes, die schier unerklärlich ist.
Jesus flüchtet. Es geht um sein Leben, um Tod oder Leben. Es gibt keinen anderen Weg. So bitter es ist, manchmal muss man flüchten. Wenn es um unser Leben geht, ums nackte Überleben unserer Seele, dann müssen wir manchmal fliehen, dann ist Flucht, das was uns manchmal nur übrig bleibt, was noch unser Leben retten könnte, unser so kleines, verletzliches Leben wie das des Jesuskindes. Und wie bitter ist es dann, wie Josef in der Fremde, abzuwarten, bis, bis man wieder aufleben, zurückkehren, weiterleben kann.
Jesus flüchtet und er wird bewahrt. Das ist bei allem Warum und Warten die Summe der Geschichte. Das Ende der Flucht. Er wird auf Umwegen bewahrt, getragen als Gottes Kostbarstes, bewahrt durch Traum, durch Engeln, durch Josef. Es ist eine Bewahrungsgeschichte, an der wir weitererzählen, die wir weitertragen:

Einander Engel werden, vielleicht nicht prophetisch die Gefahr voraussehen und den Weg weisen, aber Engel in Menschengestalt sein, wissen, wie lebensbedrohend Flucht ist, wie geschunden und geschupst Flüchtlingen werden und überlegen, wie Lebensraum, Heimat, eine Wohnung, eine Bleibe geschaffen, bereitgestellt werden können. Ja selbst das tun! Einander Menschen werden, wie Josef: Die Menschen, die flüchten müssen, tragen, stützen, vielleicht nicht auf der Flucht, aber beim Versuch, in der Fremde, hier, Fuß zu fassen, anzukommen, heimisch zu werden. Einander Christus werden: Jesus selbst war und ist ein Flüchtling, damals gleich nach der Geburt und immer wieder. Er teilt das mit allen, die flüchten müssen. In Flüchtlingen Jesu Geschichte der Flucht nach Ägypten hineinlesen, in den Flüchtlingen Grundzüge seiner Flucht erkennen, in ihren ausgemergelten Gesichtern seine Gesicht sehen und sie im Lichte von Weihnachten das ganze Jahr kostbar achten. Amen.

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