Predigt am 1. Christtag 2013
(25.12.13)
Fliehen
Zerschlissene Kleider. Ausgemergelte
Gesichter. Barfuß. Zusammengepfercht zu Hunderten. In alten Zelten, in notdürftig
aufgebauten Hütten, in Sammellagern. Bilder von Flüchtlingen, ob in Syrien, vor
Lampedusa oder auf den Philippinen. Und mit ihnen
auch die Bilder, warum sie fliehen mussten, die Bilder von Krieg, von Gräuel,
von Naturkatastrophen. Die Flucht: notgedrungen, überstürzt, ungeordnet, mit
letzten Hab und Gut, ohne alles, mit dem Tod anderer
im Kopf und mit dem eigenem Leben in der Hand als letzter Ausweg: irgendwohin, nur weg, weg vom Unheil.
Und die Flucht hat im Aufnahmelager,
hat auf dem Schiff im Mittemeer, hat in den Übergangswohnheimen kein Ende. Sie
setzt sich fort, in unseren Köpfen, in unserem Geldbeutel, in Fragen, ob all
die Flüchtlinge aufgenommen werden können, wo sind denn alle wohnen können,
wie wird das bezahlt. Die Flucht setzt sich fort in den Flüchtlingen, sie setzt
sich fort mit solchen Fragen, mit dem mühseligen, schwierigen Versuchen, in der
Fremde bei Menschen, die anders denken, glauben, leben, Fuß zu fassen,
anzukommen, sich zurechtzufinden, so etwas wie Heimat zu suchen.
Manche von Ihnen waren auch schon mal
auf der Flucht. Vor fast 70 Jahren und Ihnen steckt noch im Kopf und in der
Seele, dass Sie fliehen mussten, dass sie vertrieben wurden, dass sie hin- und
hergeschoben wurden, bis endlich erst dort und dann hier wieder ankamen und
nach und nach heimisch wurden. Neben Ihnen und denen, die aus der ehemaligen
DDR flüchteten, kennen wir Flüchtlinge und Flucht bei uns eigentlich nicht.
Vielleicht sind wir ab und zu noch als Kinder vor irgendetwas geflüchtet, aber das
schon länger nicht mehr. Heute muss man eher seinen Mann oder seine Frau
stehen, aushalten, sich durchboxen, die Ellenbogen benutzen und zum Angriff
übergehen. Fliehen, Wegrennen, Davonlaufen tun wir aber trotzdem, innerlich,
nach innen hinein, emigrieren, verkriechen, verstecken, stumm sein. Vielleicht
ist der Mensch doch ein Fluchttier.
Geflüchtet
Das Jesuskind ist auch geflüchtet. Es
wurde sozusagen geflüchtet. Kurz nach seiner Geburt konnte es selbst nicht
fliehen. Im Traum hat es der Engel seinem Vater gesagt und Josef nahm das
frischgeborene Kind, packte es ein, legte es vielleicht auf einen Esel und floh
mit ihm, nein floh für ihn; er floh mit ihm vor Herodes, der in Jesus einen
neuen konkurrierenden König sah und ihn aus dem Weg räumen wollte. Die junge
Familie flüchtete nach Ägypten, ausgerechnet in das Land, aus dem das Volk
Israel geflüchtet war, das Land, das Gefangenheit und Knechtschaft bedeutet.
Heimat sieht anders aus. Als Herodes, der Kindermörder selbst gestorben war,
kehrten Josef, Maria und Jesus wieder zurück und kamen nach Nazareth, von wo sie
vor der Geburt Jesu aufgebrochen waren.
Jesus war gleich nach seiner Geburt
ein Flüchtling. Seine Flucht gehört zu seiner Geburt und zu unserem
Weihnachten. Aufhören, weiter zu erzählen, weiter zu hören, ausblenden geht
nicht. Die Fluchtgeschichte Jesu gehört dazu, wie die Bilder der Flüchtlingen,
die Flüchtlinge selbst dazugehören zu unserem Weihnachten. Das Heil ist doch
nicht auf unser Weihnachten beschränkt, es kennt keine Schranken. Alle Flüchtlinge,
alles, was auch in uns fliehen muss, möchte, hat Anteil an der einen
Fluchtgeschichte Jesu, so wie an seiner einen Geburtsgeschichte:
In bitteren Gesichtern Jesus sehen
Jesus muss flüchten. Sein Leben wird
bedroht. Von Herodes. Warum lässt Gott seinen Sohn gefährdet sein? Warum legt er
auf unser Weihnachtsfest diesen Todesschatten? Ein Warum an Gott, das sich
durchzieht bis an Kreuz von Jesus, das sich auch stellt, wenn Krieg, Hunger,
Katastrophen, Unrechtregime Menschen nach dem Leben trachten und sie zur Flucht
treiben.
Es ist eine Teil-Flucht Gottes mit
all diesen, eine Teil-Ohnmacht Gottes, die schier unerklärlich ist.
Jesus flüchtet. Es geht um sein
Leben, um Tod oder Leben. Es gibt keinen anderen Weg. So bitter es ist,
manchmal muss man flüchten. Wenn es um unser Leben geht, ums nackte Überleben
unserer Seele, dann müssen wir manchmal fliehen, dann ist Flucht, das was uns
manchmal nur übrig bleibt, was noch unser Leben retten könnte, unser so kleines,
verletzliches Leben wie das des Jesuskindes. Und wie bitter ist es dann, wie Josef in
der Fremde, abzuwarten, bis, bis man wieder aufleben, zurückkehren, weiterleben
kann.
Jesus flüchtet und er wird bewahrt.
Das ist bei allem Warum und Warten die Summe der Geschichte. Das Ende der
Flucht. Er wird auf Umwegen bewahrt, getragen als Gottes Kostbarstes, bewahrt
durch Traum, durch Engeln, durch Josef. Es ist eine Bewahrungsgeschichte, an
der wir weitererzählen, die wir weitertragen:
Einander Engel werden, vielleicht
nicht prophetisch die Gefahr voraussehen und den Weg weisen, aber Engel in
Menschengestalt sein, wissen, wie lebensbedrohend Flucht ist, wie geschunden
und geschupst Flüchtlingen werden und überlegen, wie Lebensraum, Heimat,
eine Wohnung, eine Bleibe geschaffen, bereitgestellt werden können. Ja selbst
das tun! Einander Menschen werden, wie Josef: Die Menschen, die flüchten
müssen, tragen, stützen, vielleicht nicht auf der Flucht, aber beim Versuch, in
der Fremde, hier, Fuß zu fassen, anzukommen, heimisch zu werden. Einander
Christus werden: Jesus selbst war und ist ein Flüchtling, damals gleich nach
der Geburt und immer wieder. Er teilt das mit allen, die flüchten müssen. In
Flüchtlingen Jesu Geschichte der Flucht nach Ägypten hineinlesen, in den
Flüchtlingen Grundzüge seiner Flucht erkennen, in ihren ausgemergelten
Gesichtern seine Gesicht sehen und sie im Lichte von Weihnachten das ganze Jahr kostbar achten.
Amen.
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