Donnerstag, 27. August 2015

Mit-Leid



Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis (30. August 2015) zu Lukas 10, 25-37

Jammerte
Der barmherzige Samariter ist die Figur des christlichen Mit-Leidenden. Er ist Vorbild für die Hinwendung zum Nächsten, die aus dem Mitleid mit ihm entspringt. Das, was der Samariter, barmherzig tut, konzentriert sich in dem einen kleinen Satz „es jammerte ihn“  (Lukas 10, 33) und in der einen Geste, der Grundgeste des Hinkniens.
Diese Geste des Hinkniens führt barmherzige Samariter und Leidenden zusammen, vereinigt im Mitleiden und so legt diese Geste des barmherzigen Samariters zwei Rollenangebote nahe: Wir können uns als solche sehen, die sich wie er anderer erbarmen, zuwenden. Wir können uns aber auch als solche wahrnehmen, die des Mitleides selbst bedürfen, die unter die Räuber fallen und leiden und brauchen, dass jemand wie der barmherzigen Samariter sich in unser Leben hineinkniet
Und im Grunde umfasst diese Gestik einen dritten Blick, ein Blick auf die Rolle Gottes in Leben, in unserem: Sie führt uns in der Gestalt des barmherzigen Samariters Gottes mitleidendes Wirken vor Augen. In dieses hinein sind wir einerseits berufen, sein Erbarmen für andere Menschen spürbar zu machen, wir leben aber immer selbst davon, dass Gott uns wie alle Menschen mit-leidend im Blick hat. Seine Menschwerdung beinhaltet auch das Mitleiden mit seiner Kreatur und erbarmt sich ihrer, so dass Menschen in Elend und Würde werden, was sie sind: seine geliebten Geschöpfe. Gott kniet sich hinein in unser Leben und lässt sein Herz bewegt sein inmitten von dem, was wir so tun und leben, wenn wir selbst uns bewegen: gehen, stehen, sitzen, manchmal auch knien.



Augenblick
Diese Grundgeste des Erbarmens beginnt beim barmherzigen Samariter mit einem Augenblick. Der barmherzige Samariter wird auch überfallen, er wird geradezu überfallen vom Mitleid. Das „mit“ beginnt schon in der Situation, in der der ist, der von den Räubern überfallen wurde. Dieser Überfallene und jetzt Leidende ist jenem in den Blick gefallen, aufgefallen. Der andere, der zum Nächsten wird, hat den Blick nicht abgewendet oder unfreiwillig unscharf gesehen.  Sondern: Zufällig auf der Reise sieht er das, was ihn bemitleidet. Er kann sich seines eigenen Blickes nicht erwehren und irgendetwas geschieht „zwischen“ eigenem Sehen und dem, was dann kommt,  zwischen Sehenden und Gesehenen. Es regt sich sein Herz, er wird bewegt, auch äußerlich, er lässt nahe kommen und die Anteilnahme, die Begegnung beginnt, wird sichtbar.



Hinknien
So ist der barmherzige Samariter in Bewegung gesetzt, innerlich und äußerlich. Er steigt hinab, nicht nur vom Esel. Was so selbstverständlich aussieht, braucht Entschlossenheit. Jederzeit lauert der Feind von außen – und von innen, lauert die Gefahr, doch wegzuschauen und weiterzugehen. Der Samariter hat den Mut, sich vom Leidenden ergreifen zu lassen, ihn, den Unbeweglichen, Totstarren, so nahe kommen zu lassen, ihm nahe zu kommen, sich zu ihm zu knien. Das ist eine Geste mit Demutsanteilen, durchaus mit Risiko behaftet, an sich eine Bettlergeste. Mit den Knien auf dem Boden macht sich der Samariter klein, kleiner und er macht sich selbst schmutzig, blutig. Die klaren Rollen verschwimmen, es entsteht wirklich ein Raum mit und für ein „Mit“, für Mit-Leiden und fast intimer Gemeinschaft.



Aufstehen
Der Samariter steht schließlich wieder auf von seinen Knien. Vielleicht liegt zwischen Knien und Aufstehen der entscheidende Moment, der Moment auch von Zweifeln, Fragen, was zu tun ist, wie Hilfe jetzt aussieht, vielleicht, jetzt doch wegzugehen.  Dieser kleine Moment von der Grundgeste des Mitleids zur Tat wird zum Sekundenmoratorium, ist  Raum des vollen Sehens, des Aushaltens (auch mit sich und der eigenen Rat- und Hilflosigkeit) und wird dann zum Zwischenraum schöpferischer Parteilichkeit: Der Samariter steht auf, hat den Schmutz der Erde und vielleicht des Blutes an sich, er nimmt definitiv den Leidenden, macht die Erstversorgung, hebt ihn auf seinen Esel, bringt ihn zur nächsten Pflegestation und kümmert sich weiter, indem er seine weitere Versorgung regelt.
Die Parteinahme für die Ausgegrenzten, die Opfer, die Leidenden ist uns von Jesus gezeigt, weitergeben, anbefohlen. Wir stehen auf und heben auf, die, die an Seele, Leib und Leben leiden. Wenn es sein muss, erweitern wir unseren Mitleid-Radius über viele Grenzen hinweg. Zwischenräume, die Momente zwischen Knien und Aufstehen, sind staubig, schmutzig, das Leid klebt an einem, und sie sind ambivalent. Voller Nähe, voller Herzensregung, voller Frage nach meinem Nächsten, aber eben auch die Frage nach Distanz, nach dem übernächsten Schritt, dann diese Situation auch so konsequent weiterleben, wie es der Samariter vorlebt: Nach dem Hinknien selbst auch wieder aufstehen, nach der Nähe wieder beginnende Distanz, nach der Herzensregung ein kühler Kopf, nach der Erstversorgung das weitere Mitleiden regeln, delegieren und weiterreisen.

Weitergehen
Mitleid hat eine gute Grenze  in sich selbst, darin, dass die Leidende übergeben werden, weitergeben werden in andere gute Hände, in die gleichen Hände, in denen auch wir weitergegeben sind mit unseren Leiden, damit wir erfahren, was wir selber als Erfahrung anderen geben: Wir können uns der barmherzigen Fürsorge Gottes gewiss sein, dass er uns sein Mit-Leid und sein Mit-Sein schenkt. Wir sind vom Erbarmen Beschenkte und Beschenkende. Wir sind Samariter und unter die modernen Räuber Gefallene, in der einen Geste des Hinkniens des Mitleids miteinander vereint.
Amen.

Freitag, 14. August 2015

großgesehen



Predigt am 11. Sonntag nach Trinitatis (16. August 2015)

Lukas 18, 9-14
Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis:
Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!
Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

Zu Gott gehen
Menschen gehen zu Gott. Sie gehen hinauf, hinauf zum Tempel. Sie gehen dorthin, wo sie Gott erwarten, wo er sich ansagt, wo er gespürt wird, gegenwärtig sein möchte. Menschen suchen Gott, ab und zu, in Verzweiflung, mit Hoffnung, tastend, fragend, trotzig, einen bekannten Unbekannten suchen sie. Mehr als sich. Menschen leben.
Menschen gehen zu Gott, um zu, um zu beten, stumm, mit vielen Worten, mit Gedanken, allein, zu zweit, sie gehen zu Gott, um ihr Leben zu ihm zu bringen, vor ihn zu bringen, es ihm zu sagen, ihr Leben: mit all dem, was darin liegt, offen, verborgen, beschlossen, ausstehend, mit all den Sorgen, mit seinen Wünschen, mit seinen Wunden, Verletzungen, Sehnsüchten, Qualen, Ängsten, Seltsamkeiten und Wundern..
Menschen gehen zu Gott hinauf, wo sie ihn suchen mögen. Sie stehen vor ihm, aufrecht, gebeugt, fern, ganz nah, spüren, danken, klagen, sprechen sich aus, kontaktlos, erwartungsvoll, bleiben still, schlagen sich auf die Brust, blicken, werden gesehen.
Der eine wie der andere, Menschen immer wieder, von Zeit zu Zeit, in ihrer Zeit, Du und ich. Werden gesehen, werden gesehen von Jesus, wie sie da gehen hinauf zum Tempel, Schritt für Schritt ihres Lebens. Werden gesehen, werden zum Gleichnis, zum Abbild für mehr, viel mehr.

Für sich stehen
Menschen stehen für sich, stehen fest auf ihren Beinen, auf ihrem Leben, auf all dem, was es ist, bedeutet, vermag, kann; hingestellt, selbständig. Menschen beginnen mit Ich, im Kopf, im Sprechen, den Satz, fast jeden Satz; mit Ich: Ich danke …. Ich faste … ich spende … ich nehme … ich bin nicht wie die anderen. Sie beginnen mit ich, immer wieder, mit sich: Sie denken sich, sprechen sich, danken für sich, bleiben bei sich.
Menschen blicken von sich, von ihrem Ich aus, wie von einem weiten Turm, blicken auf andere, auf sie umgebende Menschen, auf andere Ichs, eigentlich auf ihre Du. Menschen sind überzeugt von ihrem Ich, von sich, ganz vertrauend, bauend, lebend, bestimmt von sich, nur von sich. Maß ihres Lebens. Alles andere ist weniger, ist nicht Ich, ist nicht und nichts. Sie verachten, missachten, übersehen, blicken auf andere, auf andere hinab, über andere hinweg. Nichts - der andere, nichts, nicht ein Du, das zum Ich gehören könnte, höchstens ein schön glänzender, scheinbarer, täuschender Spiegel für das eigene Ich, ein Nichts, mit dem sie immer wieder anfangen bei dem, was sie tun, beim reden, denken, beten, beim fromm sein, bei sich. Gott sieht sie.
Menschen beginnen bei Gott, bei seinem Du, notgedrungen, nicht beim Ich. Sie beginnen bei IHM: Du, Gott, sei mir Sünder gnädig. Sie blicken gebeugt weg von sich, gesenkt, auf den Boden, den Boden ihrer nackten Tatsachen, sie beginnen immer wieder vielleicht wirklich bei Nichts, bei ihrem Nichts, bei der Nichtigkeit ihrer Sünde, bei dem, dass sie verfehlen, verlieren, verletzen, Gnade, Verzeihen und der Liebe bedürfen. Demütig gebeugt selbst nichts, fangen sie dort an und suchen Gott, werden gefunden.

Von Christus erhöht
Jesus sieht diese. Sie werden zum Gleichnis, zum Bild für die Liebe, die Gnade Gottes.
Menschen werden erniedrigt und erhöht, erhöht von Gott, durch seinen liebenden Blick. Menschen gehen zu Gott, den Weg zum Tempel hinauf. Dort gewesen: Menschen kehren zurück, wieder herab, in ihr Leben zurück mit ihrem Leben, mit ihrem Leben, das vor, bei Gott war, ein Leben vor Gott.
Menschen demütig beginnen bei Gott, stammelnd, unsicher, suchend, blicken nicht auf sich, erwarten nichts und alles. Menschen werden erhöht. Sich selbst kleingemacht werden sie wunderbar groß gemacht, groß gesehen, groß gesprochen, groß erklärt, groß gemacht von Gott, vom Augenblick seiner Liebe. Gottes Gnade erhebt Menschen aus dem Blick der anderen, entzieht sie diesem vernichtenden Blick, erhebt sie aus dem Staub dass ihre eigene Existenz fraglich gebrechlich, schuldhaft, gering, niedrig ist.
Menschen werden von Gott gesehen, aufgehoben, erhöht, aufgewertet und bekommen eine tiefe Ehre und Würde zugesprochen, verliehen, unverlierbar. Gott steht den Fernen nahe, hebt seine Augen hinab vom Himmel zu seiner Erde. Er verachtet nicht, noch blickt er herab, er denkt nie: Gut, dass ich nicht bin wie sie. Er denkt viel mehr. Er denkt: ich werde wie sie.
Gott selbst erniedrigt sich am Kreuz, hinab zum Sterbepunkt menschlicher Existenz, um alle durch seinen und ihren Tod hindurch mit sich wunderbar zu erhöhen. Gott schlägt immer wieder wie an seine Brust, an seine Brust, in der sein liebendes Herz schlägt, ein Herz für seine gequälte und oft von sich und anderen erniedrigte Geschöpfe. Und Gottes Liebe erhöht den, der erniedrigt ist, sich erniedrigt. Er schenkt seine Liebe, dem, der klein ist, der der Liebe zutiefst bedarf. Gott geht mit ihm seinen Weg vom Tempel hinab und wird, ist zu Hause seinem Ich ein ewig liebendes Du, mit dem Ich immer beginnen kann. Amen.