Freitag, 30. März 2012

Ganz still wird es nie


...  Immer ist irgendwo ein Ton zu hören. Besonders tagsüber. Stimmen von Kindern und Jugendlichen vom Sportplatz, natürlich das Geräusch der Autos vor allem am Zubringer, von irgendwoher immer ein Tatütata, auch von Ferne das Läuten der Glocken unserer beiden Kirchen und irgendwie der Einkaufslärm von der Innenstadt oder ein Flugzeug am Himmel. Und drinnen sind die Töne ja auch, in jedem einzelnen Gebäude in Haslach, unzählige Stimmen, mal laute, mal leise, mal traurige, mal wütende, von Eltern, Kindern, Erwachsenen, Neugeborenen; dazu der Fernsehlärm, das Hochfahren der PCs, das Brummen der Kühlschränke, das Blubbern der Aquarien, das Schnarchen der Ehemänner, das Umblättern der Buchseiten der Schlaflosen, das stille Stöhnen der Sterbenden.
Karfreitag, der Tag, an dem wir an das Sterben Jesu denken, stelle ich mir ganz still vor, extrem still, fast gespenstisch. Als würde jemand ganz tief Atem holen und für eine Sekunde steht alles still. Grabesstille. Und Ostern stelle ich mir vor wie ein sehr lautes Jubeln, freudiges Schreien, ausgelassen, befreit, wie wenn beim SC das entscheidende Siegestor zum Klassenerhält fällt. Alle liegen sich freudestrahlend in den Armen.
Sehr bald haben wir in Haslach wieder Karfreitag und Ostern. Ob dann was von dieser grenzenlose Stille und dem grenzenlosen Jubel zu hören sein wird? Ich weiß es nicht. Vielleicht werden Passions-Stille und Oster-Jubel überstimmt, übertönt und überhört, gehen beide Grundtöne des Lebens, des Sterbens und Auferstehens, unter, verloren in der so vielfältigen lebendigen Tönewelt Haslachs? Auf jeden Fall feiern wir in den Kirchen Karfreitag und Ostern, beharrlich und stellvertretend für alle. Wir gedenken in aller Stille des Todes Jesu und der Tragik des Lebens und wir feiern laut jubelnd das Fest der Auferstehung, den wunderbaren Sieg der Liebe. Diese beiden Grundtöne lassen wir klingen, leise und laut, mitten hinein in Haslach und sein Herz, hinein in alle anderen Töne, Stimmen, in Stille und Lärm.
Dieses Jahr ist in der evangelischen Kirche das Jahr der Kirchenmusik. In vielen Tönen werden die Grundtöne des Lebens zum Klingen gebracht, in Konzerten, durch Chöre und in jedem Gottesdienst, wenn die Orgel spielt und Menschen dazu singen. Diese Töne bewahren wir für Sie auf, zum Zuhören, Einstimmen, aus der Nähe und der Ferne, oder aus der sicheren Halbdistanz, an Karfreitag ein leises: „Herr, erbarme dich“ und an Ostern lauthals: „Christ ist erstanden, Halleluja.“


Ihr Pfarrer Dr. Jochen Kunath

Donnerstag, 22. März 2012

Schlüsselerlebnis


Predigt am Sonntag Judika (25.3.12) zur Jubelkonfirmation

Schlüssel
Wir haben sie täglich in der Hand, kramen sie aus der Hosen- oder Handtasche. Wir stecken sie ins Schlüsselloch und drehen sie um und kommen in Häuser, in Wohnungen, zu den Kleidern im Schrank, können mit dem Auto oder mit dem Fahrrad losfahren. Wir haben eigentlich immer mehr als einen, oft einen ganzen Bund davon, ein Bund, der von den Schlössern unseres Alltags still erzählt, vom auf und zu schließen, von unseren eigenen vier Wänden, von dem Bedürfnis hinter sich die Tür zuzuziehen oder für andere die Türe und das Herz zu öffnen. Manche Schlüssel verlegen wir und suchen sie. Manche Schlüssel bleiben ihr Leben lang unbenutzt. Mancher Schlüssel bedeutet Besitz, Eigentum und eine kleine Macht. Manche Schlüssel tragen Sehnsucht in sich und all unsere Schlüssel, alltägliche, stille Wegbegleiter tragen unsere Lebensspuren.

Umdrehen
Vor verschlossenen Türen stehen, sich fragen, ob sie geöffnet werden. Sich wieder umdrehen und gehen. Dahinter das Unerfüllte zu ahnen. Oder hindurchgehen und in Lebensräume kommen. Die ganze eigenen finden, mit sich und anderen Räume und Leben teilen. Aufschließen und zuschließen. Das alles gehört grundlegend zum Leben.
Es gibt verschlüsselte Botschaften, die einem etwas sagen wollen. Man kann sich vieles selbst erschließen, im Nachhinein, manches bleibt Geschenk. Manche Menschen wirken verschlossen, in sich geschlossen und unzugänglich. Andere sind ungeheuer aufgeschlossen, für fast jeden und alles. Wie schön ist es, wenn wir von Liebe umschlossen werden und wie bitter, wenn wir vor einer schon längst beschlossenen Sache den Kopf schütteln. Schlüsselkinder haben Schlüssel um den Hals hänge. Manager haben Schlüsselpositionen. Petrus hat angeblich die Schlüsselgewalt. Ganz wichtige Menschen haben Schlüsselfragen parat. Und wir alle kennen Schlüsselerlebnisse, entscheidende Augenblicke in unserem Leben.
Und immer geht es irgendwie um den einen alltäglich magischen Moment: Den Schlüssel in der Hand und umdrehen. Passt er? Offen oder zu? Rein oder raus? Ja oder Nein. Das alltäglich binäre System des Lebens, das entscheidet.


Weit geöffnet
Hat Gott auch einen Schlüssel, einen Schlüsselbund? Oder ist er die Tür, das Tor, die Pforte zu etwas? Gott ist weder Tür noch Schlüssel, aber er ist entscheidend. Er schließt auf und schließt ab. Er öffnet und durch ihn kommen wir dorthin, wo wir das Leben entdecken, bekommen und haben.
Zweimal denkt die Bibel Gott und Schlüssel zusammen. Einmal hat Gott den Schlüssel zur Hölle und damit schließt er sie, die Hölle, das verlorene Leben, für uns zu. Und einmal gibt Gott Petrus den Schlüssel zum Himmelreich und protestantisch sind wir Petrus, Menschen, die vor Gott leben wollen, und so gibt er uns den Schlüssel zum Himmelreich. Er hat diesen Schlüssel und gibt ihn uns, damit wir durch ihn ins Leben, ja zum Leben kommen.
Gott hat unseren Lebensschlüssel in der Hand und schenkt ihn uns. Das verlorene Leben schließt er ab. Keine Hölle für uns. Und er schließt das Leben für uns auf. Wir können hineingehen. Versprochen.

Schlüsselleben
In der Taufe erhalten wir den Schlüssel des Lebens. Wenn wir als Säuglinge getauft werden, nicht direkt. Wir müssen erst lernen zu greifen, zu halten und die Dinge in ihrer Bedeutung zu benutzen. Das gilt auch für den Schlüssel des Lebens. Ihn bekommen, bekamen die Eltern und die Paten. Sie schließen für die Täuflinge das Leben auf und gehen mit ihnen hinein. So erfahren die Täuflinge, wenn sie größer werden, wie man diesen Schlüssel benutzen kann und lernen seinen Gebrauch. Bestenfalls. Aber schon da, kann man auch nie lernen, verlernen oder vergessen, was man geschenkt bekommen hat.
In der Konfirmation sagen die fast erwachsenen Ex-Täuflinge Ja zur Taufe und ihr Schlüssel zum Leben wird ihr ganz eigener Besitz und sie sind allein dafür verantwortlich, auf ihn aufzupassen und ihn zu benutzen. Und man merkt spätestens dann, da sind noch andere, die diesen Schlüssel haben, Mitkonfirmanden, Gemeinde genannt, die Schlüssel sind verschieden, alle führen aber ins Leben zu Gott. Und Gott hat sie wie ein Schlüsselbund in der Hand.
Im Lauf des Menschenlebens gibt es dann verschiedene Zeiten für den Lebensschlüssel. Menschen gehen ganz unterschiedlich mit ihm um. Manche vergessen ihn. Manche brauchen ihn nicht. Bei manchen funktioniert er scheinbar nicht und das Leben wird zur Suche nach dem passenden Schlüsselloch zum Leben. Manche machen regen Gebrauch davon. Ein Leben als Schlüsselgeschichte.

Heute Jubelkonfirmation: Blick auf den Schlüssel des Lebens. Rückblicks auf Ihren und unseren Schlüsselgebrauch. Zeit auch der Erinnerung an Ihre Schlüsselerlebnisse, an die Momente, in den Sie ihren Lebensschlüssel für Sie und Gott entscheidend genutzt haben. Zeit der Dankbarkeit. Gott hat Ihnen sein Schlüssel des Lebens gegeben, damit wir das Leben finden und haben. Mit ihm. Gott erschließt sich ihnen als einer, der alles Schwere und alle Höllenmomente wegschließen möchte und Ihnen, uns allen die Tür zum Leben weit aufschließt.

Herein!
Gleich im Abendmahl werden wir das ganz nah erleben dürfen, Gott dreht den Schlüssel für uns um, wir treten hinzu und wir sind seine Gäste, freigesprochen von allem schweren und zurecht geliebt zum Leben mit ihm. Im Segen, den Sie wie damals bei ihrer Taufe und bei ihrer Konfirmation zugesprochen bekommen passiert weder Schlüssel noch Tür. Es passiert, es ist das, wenn Gott mit dem Schlüssel des Lebens die Tür aufschließt: Sie werden von Ihrem Gott liebevoll umarmt und sind ein Mensch im Himmelreich. Amen.

Sonntag, 18. März 2012

„Die Tiefe Gottes“

Predigt am Sonntag Laetare (18.3.12) 
zum Konfi-Thema „Höhen und Tiefen“

So breit wie lang
Höhe und Tiefe sind eigentlich erst einmal nur Raumgrößen, Raumausdehnungen: oben und unten, sehr weit oben und sehr weit unten, Höhe und Tiefe. Dazu kommen Länge und Breite und dann ist jeder Raum ausgemessen, in seiner Ausdehnung beschrieben, und in diesem Raum bewegen wir uns, in dieser Raumausdehnung leben wir, empfinden sie man eng oder weit, mal leer oder gefüllt, mal unser, mal fremd .Leben zwischen Länge und Breite, Höhe und Tiefe. So ist das Leben.
Gott nennen wir allmächtig, allgegenwärtig, immer und überall irgendwie da. So kann es eigentlich keinen Raum geben, in dem er nicht ist. Kann es keine Raumausdehnung geben, in der er nicht ist. Er ist präsent, gegenwärtig, da in allen Räumen, in aller Ausdehnung, in allem zwischen Höhe, Tiefe, Breite und Länge.
So kann uns nichts scheiden von ihm, weder Hohes noch Tiefes. So ist Gott für uns immer da in unseren Raumbewegungen in Höhe, Tiefe, Breite und Länge. So ist Gott für uns immer begleitender Bezugspunkt, Resonanzraum: in der Länge unseres Lebens, in der Breite seiner Augenblicke, Gedanken, Gefühle, in erlebten Höhen und in durchlittenen Tiefen. Er ist Resonanz in der Tiefe für unsere Klagen und Bitten. Er ist Resonanz in der Höhe für unseren Dank und unser Lob.

Aus der Tiefe
Wir Menschen sind lebendig verortet zwischen Höhe und Tiefe, und deren Momente mit Kummer und im Glück, zwischen Gulli und Schiene, mit dem Blick auf die Kraft, gebückt nach oben. Wir selbst mit unserem Körper und der Seele sind immer Raum im Raum selbst, sind oft gutes Mittelmaß, loten aus, werden ausgelotet zwischen Höhen und Tiefen, zwischen Höhepunkte und Tiefpunkten.
Wir Menschen sehen, brauchen, sehnen uns nach einem Gott in der Höhe, der da oben thront, sicher herrscht, herrlich sitzt; dessen Wege, dessen Gedanken, dessen Wille und Weitblick höher, größer, weiter ist als unsere. Ein Gott, der dem gegenüber steht, lebt, sich bewegt, das uns Tiefe ist. Gott gegenüber dem Graben, dem Schlamm, dem undurchsichtigen Meer, der abgründige Erde, dem trügerischen Schlaf, dem unseligen Tod, dem Chaos, der Tiefe, unsere Untiefe, die ungezügelt, verschlingend, unerforschlich, unbegreiflich ist.
Menschen schreien aus der Tiefe, als säßen sie dort fest, als wäre der Blick nach oben unendlich weit, aussichtslos, Tiefe der Trauer, des eigenen Leidens, der Schuld, der Ratlosigkeit, der Einsamkeit, des Seelenunfriedens.
Aus der Tiefe schreien Menschen zu Gott in der Höhe. Und Gott holt sie raus und wirft ihre Sünden ins äußerste Meer und Menschen erleben die Tiefe Gottes, die Tiefe des Reichtums Gottes, seine unbegreiflichen und unerforschlichen Wege.
In die Höhe steigen Menschen. Sie sehen die Höhe oben und das Ziel vor Augen. Die Höhe wird zum Spiegelbild von dem, der sie ersteigt. Die Tiefe ist unbekannt, sie liegt im Dunkeln, unten, man kann sie nicht einsehen. In die Tiefe steigen Menschen, ohne zu sehen, wie sie hinunter kommen, wo sie endet, was dort ist. So wird die Tiefe zum Ort, an dem Menschen von sich etwas sehen, was sie noch nicht waren, bis sie dort in der Tiefe waren. Sie kommen tiefer zu sich.

heruntergekommen
Gott wurde Mensch in Jesus von Nazareth. Der hohe Gott steigt herab von seinem himmlischen Thron, entkleidet sich seiner Herrlichkeit und Majestät und wird Mensch. Die Höhe kommt herunter und wird tiefer. Gott kommt tiefer zu sich.
Im Leiden von Jesus wird dieser Abstieg zum freien Fall. Die Passion Jesu ist Gottes Tiefpunkt. Und doch wohnt diesem Abstieg Gottes eine eigentümliche Höhe inne, weil die Liebe Jesus nicht aufhört. Jesus stirbt am Kreuz und er steigt hinab ins Totenreich. Tiefer geht es nicht. Weiter ausgespannt zwischen einstiger Höhe im Himmel als Gottessohn und verborgener Jesus im Totenreich geht es nicht, in dieser weitesten Ausdehnung scheinen all unsere Räume umschlossen zu sein.
Jesus ist in der absolute Tiefe, dem Totenreich. Unserem Gott, der seinen Sohn, seinen Plan vom menschlichen Glück, seine Liebe so tief fallen lässt, so tief gehen lässt, so tief wie es tiefer nicht geht, unserem Gott ist nichts Abgründiges fremd, er durchmisst alles, er ist nie nur der hohe, erhabene Gott. Er ist der wirklich und ganz und gar heruntergekommene Gott. Einer, dem unsere Tiefen, die allertiefsten Tiefen die eigenen sind.
Sein Sohn, sein Plan vom Glück, seine große Liebe durchschreitet selbst diese tiefsten Tiefen, durchlebt, erlebt sie und ist so auch in unseren Tiefen gegenwärtig. So wird unsere Tiefe zur Tiefe, in der wir tief zu uns kommen als die, die wir sind in Höhen, im Mittelmaß und eben in den Tiefen: Gottes immer dennoch, immer geliebte Menschen, an denen er festhält, mit denen er durch Tiefen geht - bis nach einer manchmal unbestimmten Zeit so etwas wie Auferstehung im Leben kommt. Amen.

Donnerstag, 8. März 2012

„ .. es will die Augen schließen und glauben blind.“

Gedanken zur Blindheit des Glaubens zu Sonntag Oculi (11.3.12)

Ohne äußere Welt
Blind sein: heißt ohne äußere, sichtbare Welt sein
Es heißt von den Dingen, Menschen, zu wissen, aber nicht zu wissen, wie von außen sind, wie sie aussehen.
Am radikalsten ist dies für Blinde, die von Geburt an blind sind:
Die Dinge, die Menschen kennen, aber überhaupt nicht wissen, wie sie aussehen, so aussehen, wie wir sie sehen.
Unsere Welt, die Welt der Sehenden ist voll von Wörtern, mit denen wir das Aussehen von Dingen, Menschen beschreiben, benennen: Grün, schön, hell, angestrengt, fröhlich, lächelnd, ernst, blau wie der Himmel, dunkel wie die Nacht, ein tiefblaues Meer, ein strahlend heller Sommermorgen.
Ein Blinder kennt grün nicht, er berührt eine Wiese, ohne zu wissen, dass sie grün ist. Ein Blinder kennt dunkel nicht, er spricht mit einem Menschen, der traurig ist, und sieht nicht seine verdunkelte Mine.
Blinde leben mit inneren Bildern, mit Vorstellungen der Dinge und der Menschen, die sie nicht über Sehen und Aussehen bekommen, sondern woanders her, und sie reproduziere das Wesen der Dinge und der Menschen nicht über Sehen, über Visuelles, sie erzählen dann von ihren inneren Bildern
Für sie ist die Wiese nicht grün, mit dieser Beschreibung können sie nichts anfangen, aber in ihnen ist die Wiese so lebendig, saftig, wie wenn wir grün sagen.
Aber: Wer ist an der Wahrheit, am Wesen der Dinge näher? Die Blinden oder die Sehenden?

Geschlagen mit Blindheit
In der Bibel ist Blindheit ein Makel.
Im Alten Testament soll man die Blinden schützen und wer ihnen ein Bein stellt, ist zu verfluchen. Hiob – in guten Zeiten – rühmt sich damit, dass er der Blinden Auge war. Und in der späten Prophetie taucht dann das Motiv auf, das prägend ist:
Die Blinden sollen geheilt werden, ihnen sollen die Augen geöffnet werden. Dies wäre Anzeichen, ein Zeichen der Gottesherrschaft.
In dieser Erwartung steht Jesus. Er ist sie selbst:  Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt.
Und so steht im Mittelpunkt des Wirkens Jesu die wundersame wie wunderbare Heilung der Blinden. Fünf Heilungsgeschichten von Blinden erzählen die Evangelien.
Und diese Heilungen von Blindheit werden immer mit Glauben in Verbindung gebracht.
Und so wird in der Bibel Unglaube metaphorisch als Blindheit bezeichnet. Wer nicht glaubt, ist blind; wer sündig, ist mit Blindheit geschlagen; die, die Gott nicht erkennen, sind blind, obwohl sie sehen. Innerlich blind, obwohl sie äußerlich sehen.
Und so plädieren einmal das Alte und einmal das Neue Testament für das Sehen des Herzens, fast so ein bisschen den kleinen Prinzen vorwegnehmend: Nur mit dem Herzen sieht man gut. Aber selbst da bleibt es dabei: Blindheit ist Makel, Blindheit ist schlecht, negativ.
Wie müssen sich da Blinde fühlen, die unheilbar blind sind, wie die meisten von ihnen?? Wenn ihre Blindheit, ein wesentlicher Kern ihres Lebens, ihres Wesens, am sich nur als Makel gesehen wird? Manche machen uns dann etwas vor mit ihrem Makel.

Innere Wirklichkeiten
Als ich mit Herrn Kathrein per Email Kontakt aufgenommen habe, haben wir natürlich über den Gottesdienst gesprochen und über die Idee der „Blindgänge“; dazu wollte ich ihm sagen, wie unsere Kirche aussieht. Aus Gewohnheit wollte ich ihm schnell ein Bild von unserer Kirche per Email schicken. Doch er ist blind. Wie hätte er dieses Bild anschauen können?
Ich habe ihm dann versucht, die Kirche zu beschreiben. Er wird diese Kirche nie „wirklich“ sehen. Er ist blind. Aber Blinde sehen sie innerlich und vielleicht ist sie ja so wirklich.
Wir haben alle unsere inneren Bilder, und natürlich die äußeren - und die äußeren, die wir unmittelbar über das Sehen gewinnen, sind viel eindrücklicher, mehr und wahrscheinlich bestimmender. Und sie sind maßstäblicher. Die Welt, die äußere suggeriert: Das ist schön. Das ist hübsch. Das ist hässlich. Das ist gut. Das ist schlecht.
Gott können wir nicht sehen, Glauben können wir auch zu guten Teilen, ich würde sagen im Wesentlichen, nicht sehen, die wahre Gemeinschaft der Glaubenden auch nicht. Und wir leiden manchmal darunter, weil wir so sehr vom Sichtbaren leben.
Im so geschätzten Lied „So nimm denn meine Hände“, habe wir eben wie selbstverständlich in der 2. Strophe gesungen: „ ... es [Gottes Kind] will die Augen schließen und glauben blind.“
Blind glauben.
Sich nicht von den äußeren, oft trügerischen Bildern beherrschen lassen.
In sich die Bilder von Gott fühlen, erleben, leben lassen und wirklich und wirksam sein lassen, mehr als das Äußere und so sehr in das Äußere.
Diese Bilder blind erspüren, in der Begegnung mit der Welt, mit den Dingen und den Menschen.
Jede einzelne Predigt will dies, man braucht zu keiner Predigt eigentlich die Augen, man könnte ihnen blind zuhören. Innere Bilder sollen im Predigen und Predigthören in Euch wachsen, Bilder von Gott, von Liebe, von Geborgenheit, von Fragen, die zu beantworten sind, von tragischen Fehlern, die man begeht, von Hass und Friede, von Speise und Trost, von Tränen und tiefer Hoffnung –
Und von Vertrauen.
Genau das habe die Blinden uns Sehenden wohl weit voraus.

Donnerstag, 1. März 2012

Den Ernstfall proben


„Den Ernstfall proben“
Predigt am Sonntag Remiscere (4.3.2012)

Jesaja 5, 1-7 Das Lied vom unfruchtbaren Weinberg
Wohlan, ich will meinem lieben Freunde singen, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg:
Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe. Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Turm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte.
Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg! Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte?
Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will!:
Sein Zaun soll weggenommen werden, dass er verwüstet werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde. 6 Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen.
Des HERRN Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.

Zuhörer
Ein Liebeslied. Ein Lied über Liebe. Ein Lied eines Liebenden. Ein Lied gesungen, vorgetragen, vor anderen. Vor uns: Wir sind die Zuhörer wie schon wie so viele zuvor. Wir. Wir sitzen, still, gespannt und hören zu: Wie uns gegenüber, etwas erhöht, wie auf der Bühne einer von seiner Liebe singt. Dieses Liebeslied reiht sich irgendwie ein in die vielen Liebeslieder, die wir kennen, hören, im Radio, im Fernsehen, auf Bühnen, wenn andere über ihre Liebe singen, darüber, was sie berührt, wie sie ihre Liebe erleben, wie sie ihre Liebe finden, leben, verlieren.
Wir hören und sehen: Da ist einer, der seine Liebe pflegt und hegt, für sie da ist, für sie arbeitet, für sie alles Wichtige tut, darauf wartet, wie sie ihm seine Liebe erwidert, ihn auch liebt, wie er sehnsuchtsvoll und geduldig wartet. Und unsere Augen und Ohren gehen mit. Und wir werden als Publikum davon angerührt. Wir sind auch welche, die Liebe brauchen, und auch welche, die Liebe geben möchten. Und wir spiegeln uns in diesem Liebeslied, fast gemütlich, fast genussvoll - und werden plötzlich wie rausgerissen, rausgerissen in dem Moment, wenn die Liebe nicht gegenlieb findet, wenn Liebe nicht durch Liebe erwidert wir, wenn das zarte, leise Liebeslied zum erbärmlichen Liebesdrama wird.

Reingezogen
Und wir werden fast abrupt, gerade noch am Bühnenrand sitzend, hineingezogen in dieses Drama, werden von der Bühne des Liebesliedes aus direkt angesprochen, ja gefordert zu antworten. Plötzlich sollen wir wie aufstehen und diese unerfüllte Liebesgeschichte, diese tragische Liebesszene beurteilen, darüber Recht sprechen.
Wir können nicht nur zuschauen, zuhören, darauf gucken, wenn Gottes Liebe unerwidert bleibt, wenn er Menschen Herzen, Menschenleben hegt und pflegt, umgräbt, entsteint, bepflanzt, alles bereit macht und sehnsuchtsvoll und geduldig auf die Geburt der Gegenliebe wartet - und sie nicht bekommt.
In diesem Moment der enttäuschten Liebe, der Tragik, des Dramas können wir nicht mehr distanziert zuschauen oder wegschauen. In diesem Moment sind wir gefragt, beteiligt, mit auf der Bühne, die keine mehr ist, mitten drin im Schauspiel, das keines mehr ist.

zugemutet
Doch bevor wir den Fuß auf die Bühne des Dramas setzen. Bevor wir zum Akteur werden, der sich beteiligt und einmischt. Bevor wir den Mund aufmachen können und sagen, was wir denken, fühlen, was wir davon halten. Wird uns vor Augen geführt, was passieren wird, werden wir wieder zum Zuschauer gemacht, zu einem der sieht, was passieren wird.
Der Film geht wie weiter, aber schrecklich: Das, was Gott liebt, wird zerstört, wird kaputt gemacht, wird verwüstet, zertreten, liegen gelassen, wird dürr und ausgetrocknet, ist tot. Das, woran sein Herz hängt, reißt er von seinem Herz weg und wirft es weg. Ein Stück von seinem Herzen.
Und diesmal ist es kein fast gemütliches, wohliges Lauschen eines Liebesliedes, sondern eine Zumutung, eine Zumutung, was wir da sehen und hören, vor Augen und Sinne geführt bekommen, eine Schreckensvision, ein Horrortrip, einer, wenn wir ihn lesen, hören, sehen in die Zuschauerstühle presst, uns fesselt, uns zutiefst verstört.

beteiligt
Dieser Text, das alte Weinberglied ist wie ein Geschehen auf der Bühne, Liebeslied und Schreckensvision, man wird halb reingezogen, hört und schaut betört und verstört zu. Der Text ist, als gäbe es die Möglichkeit, den Ernstfall zu sehen, den Ernstfall der Liebe Gottes und den Ernstfall, wenn diese Liebe enttäuscht, nicht erwidert wird, als gäbe es den Ernstfall als Schauspiel zu sehen und wie vor Augen und für die Sinne zu proben.
Die Passionsgeschichte, das Geschehen um da Leiden Jesu, war keine Probe, kein Schauspiel, keine Aufführung. Es ist das Drama der Liebe Gottes selbst. Das Drama seiner großen Liebe, und das Drama, dass diese Liebe nicht erwidert wird, dass sie getötet wird. Die Passion Jesu ist der Ernstfall alles Lebens, das sich mit Gott verbindet. Und wir sind keine Zuschauer, keine Betrachter, keine Zuhörer, wenn es um die Passion geht, wir sind mitten drin, beteiligt, gefordert, mehr als gefragt.


abgedreht
Und Gott? Wer ist er in der Passionsgeschichte? Er ist weder Regisseur des ganzen Dramas, noch trägt er ein Liebeslied vor. Er schreibt auch keine Drehbücher oder zieht die Strippen im Hintergrund bei der Besetzung des Stückes. Auch gehört er nicht zum Ensemble der Schauspieler oder zeigt einen Film. Aber vor allen ist er kein irgendwie distanzierter Zuschauer, genauso wenig wie wir.
In der Passion ist Gott selbst beteiligt, mittendrin, mitleidend in seinem Sohn. Für ihn steht alles auf dem Spiel. Er erlebt das größte Drama seiner Liebe, einen Supergau, er durchleidet den Widerspruch gegen seine Liebe, ist furchtbar nahe an Wut und Zorn und an Enttäuschung.
Der Weinberg ist Jesus, sein geliebtes Alles, und die von ihm geliebten Menschen; indem Jesus stirbt, stirbt auch die Antwort auf seine Liebe. Wir haben seine Liebe enttäuscht. Der Weinberg ist tot. Der Film, die Welt, Gottes Herz steht still.
Ostern erzählt die Weltgeschichte anders weiter, macht uns zu Zuschauern und zu Beteiligten, zu solchen die sehen und denen widerfährt, die sehen und spüren: Gottes Liebe besiegt seinen Zorn. Das Drama endet im erneuten Liebenslied. Die Liebe gewinnt.
In der Passionszeit warten wir, wie der Herr des Weinbergs, geduldig und sehnsuchtsvoll. An Karfreitag durchleiden wir das Ende. An Ostern feiern und erleben wir die Früchte der Liebe Gottes für uns. Amen.