Mittwoch, 4. April 2012

„In Liebe sterben“


Predigt an Karfreitag (6.04.12) zu „O Haupt voll Blut und Wunden“ (EG 85)
http://www.lieder-archiv.de/lieder/midi/300770.mid

Angesichts des Todes von Liebe sagen
Die Melodie ist die eines alten Liebesliedes. Der Text eine alte Meditation über die sieben Gliedmaßen des gekreuzigten Jesus. Also: Ein Liebeslied über den Körper des Gekreuzigten. Über Leib, Haupt, Angesicht, Wangen, Lippen, Mund, Arm und Schoß- und immer wieder über das Herz. Eine körperliche Liebe, voller Schmerz und Sehnsucht, Blicken und Nähe, Angst und Treue, Suche und Gnade.
Der Tod raubt die Distanz. Jede. Auch wenn wir Distanz suchen. Liebe sucht die Nähe auch aus Ferne. Liebe sucht den Geliebten, ihm nahe zu kommen, zu sein, zu bleiben. Der Tod macht ohnmächtig, stumm, still schreiend. Liebe und Tod. Wie begegnen sich beide? Liebe und Tod? Den Sterbenden lieben. Wie nur? Ihn im Sterben lieben.

Wir singen die Strophe 1-3:
1. O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn,
o Haupt, zum Spott gebunden mit einer Dornenkron,
o Haupt, sonst schön gezieret mit höchster Ehr und Zier,
jetzt aber hoch schimpfieret: gegrüßet seist du mir!

2. Du edles Angesichte, davor sonst schrickt und scheut
das große Weltgewichte: wie bist du so bespeit,
wie bist du so erbleichet! Wer hat dein Augenlicht,
dem sonst kein Licht nicht gleichet, so schändlich zugericht’?

3. Die Farbe deiner Wangen, der roten Lippen Pracht
ist hin und ganz vergangen; des blassen Todes Macht
hat alles hingenommen, hat alles hingerafft,
und daher bist du kommen von deines Leibes Kraft.

Das Auge stirbt
Mit jedem Ton, mit jedem Wortteil werden wir dem sterbenden Jesu, dem Gekreuzigten gegenübergestellt, sehen wir uns ihm gegenüber. Massiv, brutal, körperlich. Wir können im Grunde nicht ausweichen. Da ist er. Da sind wir. Ihm gegenüber. Nicht nur in Erinnerung. In Gedanken. Nicht: Im feinen Abstand der Jahrhunderte. Nicht: Im weiten Abstand der eigenen Welten. Jetzt stehen wir ihm gegenüber:
Wir sehen, blicken mit unseren Augen auf sein Haupt, seine Angesicht, sein Augenlicht, seine Wangen, seine Lippen. Sehen seinen Leib, seinen Körper, voll Schmerz, Hohn, Spott, beschimpft, bespien, erbleicht, schändlich zugerichtet, blass, vergangen, hingerichtet. Nichts ist mehr dran, was er vorher war. Nichts trägt er mehr von den vergangenen Tagen.
Die Liebe zu ihm möchte ihn am liebsten abnehmen, ihm den Tod ersparen, den Tod verhindern. Liebe will nicht, dass der andere stirbt, nicht so, nicht leidet im Krankenbett, im Alter, manche Kinder klein unter stummen Qualen, mit Schläuchen in der Nase, Kabeln am Körper. Irgendwie will Liebe den geliebten Menschen retten vor dem Tod, im Sterben. Doch das geht nicht. Der Tod ist da. Der Tod ist übermächtig. Der Tod macht ohnmächtig. Und der, der liebt, geht ihn mit, stirbt mit.

Wir singen die Strophen 4 +5:
4. Nun, was du, Herr, erduldet, ist alles meine Last;
ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast.
Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat.
Gib mir, o mein Erbarmer, den Anblick deiner Gnad.

5. Erkenne mich, mein Hüter, mein Hirte, nimm mich an.
Von dir, Quell aller Güter, ist mir viel Guts getan;
dein Mund hat mich gelabet mit Milch und süßer Kost,
dein Geist hat mich begabet mit mancher Himmelslust.

Liebend angeblickt
Der Sterbende blickt uns an. Ein Blickwechsel in Liebe. Ein Blickwechsel der Liebe. Hoffentlich. Sterbende tun das. Einen anblicken. Auch mit geschlossenen Augen. Er blickt an mit dem, was er ist, bald was er war, sein Körper blickt mit. Er blickt an den, der gegenüber steht, ist, der schaut. Er erkennt und sieht, wer wir sind, unser Leben und sichtbar wird, was da war, die ganze Geschichte zwischen ihm und mir, zwischen dem, der stirbt, und mir, der lebt; zwischen Jesu am Kreuz und mir davor, dabei:
Sichtbar wird alles. Sichtbar wird: Jesus war Hirte und Erbarmer, Hüter und Quelle. Sichtbar wird: Er hat so oft so Gutes getan, den Himmel aufgeschlossen, Arme reich gemacht, Ausgegrenzte geliebt, Mühselige beruhigt, Unheilszusammenhänge zerrissen, Gottes Liebe gesagt – gelebt und geliebt. Sichtbar wird: Wir Menschen sind Menschen in Würde und in Elend, mit Ecken und Kanten, mit Fehlern und Sünden, Menschen, die lieben wollen und es oft nicht schaffen, die Schuld auf sich laden, die selbst beladen sind, tragisch, mit anderen, mit sich.
Sichtbar wird: Jesus blickt liebend sterbend vom Kreuz. Er blickt auf uns. Seine Liebe ist berührt am Kreuz von uns, von unserer gemeinsamen Geschichte, von unserer Last, von meiner! Er liebt uns so sehr, dass er meine Last zu seiner wird. Er sie, mich, auf sich nimmt, erduldet, erträgt, trägt.
Wir singen die Strophen 6-7:
6. Ich will hier bei dir stehen, verachte mich doch nicht;
von dir will ich nicht gehen, wenn dir dein Herze bricht;
wenn dein Haupt wird erblassen im letzten Todesstoß,
alsdann will ich dich fassen in meinen Arm und Schoß.

7. Es dient zu meinen Freuden und tut mir herzlich wohl,
wenn ich in deinem Leiden, mein Heil, mich finden soll.
Ach möcht ich, o mein Leben, an deinem Kreuze hier
mein Leben von mir geben, wie wohl geschähe mir!

Tot wie du
Die Liebe sucht die Nähe im Sterben. Sie kann nicht anders. Liebe ist Nähe und wahrt den anderen. Die Liebe sucht auch den sterbenden Gottesssohn, auch und ganz anders. Zugemutet. Abgerungen. An den Abgrund gebracht. Wir schauen Jesus an. Wir gehen nicht, wir bleiben stehen, wir wollen anfassen, berühren, in die Arme nehmen. So sehr uns der Sterbende abstößt, der Tod uns ekelt, widerwärtig ist, so sehr wollen wir den Sterbenden umarmen, vielleicht ungeschehen machen, aber mit ganz viel Liebe beim ihm sein, wenn er stirbt. Das schulden wir ihm.
Wir wollen mitleiden, nicht „wollen“, aber müssen die Liebe sagt es uns. Auch wenn wir wissen: Es stirbt der andere. Er leidet. Er liegt dort. Er hängt dort. Wir wollen dies irgendwie mit sein. Als würde unser Leben dort sein, unsere Liebe dort sein, als würde in diesem Tod auch etwas von uns dort sein. Mehr noch:
Mit Jesus tauschen. Nicht nur den Blick der Liebe wechseln, sondern die Rollen, das Leben wechseln. Nicht ihn vom Kreuz nehmen. Nicht seinen Tod verhindern. Sondern mit ihm tauschen. Nicht nur sich seinem Sterben stellen, gegenüberstellen. Nicht nur sein Sterben anblicken und sein eigene Sterblichkeit darin sehen. Sondern hier selbst sein, sein Leben dorthin geben, sein Heil darin suchen, seine Liebe darin suchen und finden, unbegreiflich lieben.

Wir singen die Strophen 8-10:
8. Ich danke dir von Herzen, o Jesu, liebster Freund,
für deines Todes Schmerzen, da du’s so gut gemeint.
Ach gib, dass ich mich halte zu dir und deiner Treu
und, wenn ich nun erkalte, in dir mein Ende sei.

9. Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir,
wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür;
wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein,
so reiß mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein.

10. Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod,
und lass mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot.
Da will ich nach dir blicken, da will ich glaubensvoll
dich fest an mein Herz drücken. Wer so stirbt, der stirbt wohl.

Mit dir sterben
Was Jesus im Leben getan hat, hat er den Menschen zu Gute getan, ihnen zum Wohl, zum Heil, zur Gottesnähe und zur Liebe. Vielleicht ist das auch so in seinem Sterben, in seinem Tod, ein letztes entschiedenes: Dir, Mensch, zu Gute, zum Wohl, zum Schild und Trost.
In unserem Sterben, in unserem Tod, wenn unser Ende kommt, wir erkalten und vielleicht jene Angst und Pein spüren, die wir dem sterbenden Jesus an Leib und Seele ansehen, geschieht, was im Sterben Jesu, unter dem Kreuz, wenn Tod und Liebe sich begegnen, geschieht:
Jesus scheidet nicht von uns. Er tritt herfür. Er reißt uns aus Todesängsten. Er steht bei uns, als der, der auch litt und Leiden wie Angst, Hohn wie Zweifel trägt. In unserer eigenen Todesstunde, nie nur der letzten, sondern in jeder im Leben, blicken wir ihn an, als stünden wir mit ihm vor seinem Kreuz, als sei Karfreitag, und sehen an ihm, wie er uns ansieht, uns erkennt und nicht verachtet, wie er zu uns kommt. In seinem Sterben drücken wir ihn fest an unser Herz. Und in unserem er uns fest an sein Herz. Es pulsiert mitten im Sterben der Herzschlag zwischen Jesus und uns. Amen