Freitag, 22. November 2013

Tränenbrot



Predigt am Ewigkeitssonntag 2013
zum Lied "Meine Freundin war im Koma und ..."

 Nicht du
Nicht du. Du nicht. Erstes Gefühl, erster Gedanke, erste Worte. Alle. Aber doch nicht du. Bei der Diagnose, merkwürdig gedämpft im Arztgespräch, in schier unendlichen Fahrten hin und her, auf dem Sofa wie erschlagen, ungeheuer stark am Totenbett, lange hin wartend, plötzlich: Nicht du, bitte nicht du, du nicht, bleib!, bitte, sei nicht krank, sei nicht tot. Ich will es nicht haben, nicht wahrhaben, nicht fassen.
Aber du auch, auch du. Schrecklich, immer mehr ins Hirn sickernd, in die Gefühle kriechend, sie lähmend, vor Augen gehalten: Du auch. Jeder kennt jemanden, der jemanden verloren hat. Der Pfarrer hat schon viele beerdigt. Ein Termin beim Bestatter, andere haben auch welche, ein Reihengrab neben den anderen, der Lauf der Dinge, der Gang des Lebens, weiter, weiter geht´s. Nein. Nicht du, und: Du auch, wir dazwischen eingezwängt, traurig eingespannt. Ich, ich auch, ich selbst auch mal, auch mal sterben. Irgendwann. Aber du?

Worlds best mum
Du: Freundin, Freund, Bekannte, Nachbar, du, mein Mann, meine Frau, meine Mutter, mein Opa, mein Kind, mein geliebtes. Du: Worlds best Mum, worlds best wife, worlds best friend. Ja, von meiner Welt das Beste. Wie immer du auch warst, mit deinen Schwächen, Kanten, Ecken, mit deinen Schrullen, Liebenswürdigkeiten,  mit dem Leben vor und hinter dir, mit deinen, nur deinen kleinen Worten, deinen Blicken, deinen Augen, Atem, den Händen zu mir.
Meiner Welt das Beste, meiner kleinen Welt, aber du gehörst dazu, verzeih: gehörtest dazu, warst da, fülltest die Räume, warst Zeit bei mir, Hilfe und Bedürftige, Rat und Tat, Weg und Gedanke, Nachtgefährte, Stück täglich Brot. Wer hat sie nicht stehen oder gesehen, diese kleine verdammte Tasse mit Namen drauf, geschenkt, geschenkt bekommen, geliebt-gehasst, lausig, die Schrift vom Wasser blass gespült, heute ohne Besitz mehr, aber mit Loch und randvoll mit Erinnerung.

Tunnelende
Erinnerungsstücke. Souvenirs. Mitbringsel. Habseligkeiten derer, die Gott selig habe. Sie füllen unsere Wohnungen, an den Wänden, auf Regalen, in Schubladen, im Kopf, im Herz, in Erinnerung. Bilder, Dinge, Erzählendes. Irgendwann gekauft, aufgenommen, mitgebracht, hingestellt, erzählen sie heute von damals, von ihm und von ihr, wie es mit ihm war, mit ihr zusammen gewesen ist. Ein bisschen lausig, weil in ihnen auch der Schmerz wie wohnt, weil sie in manchen Stunden nicht von Erinnerung erzählen, sondern vom Nicht-Dasein, vom Vermissen, vom Loch, von unseren Tränen, vom Fehlen und Sehnen.
Am Tunnelende stehen diese Souvenirs nicht, sie stehen bei uns. Am Tunnelende hoffen wir die, die sie uns schenkten. Mit ihnen sind wir durch den Tunnel gegangen. Den Tunnel der Krankheit, des Sterbens, des Abschieds, des Schocks, der Trauer. Am Tunnelende stehen wir, irgendwie  am falschen Ende, den Blick in die unerträgliche Enge des Tunnelblicks in ein fernes Licht, zurückgelassen, alleingelassen, getrennt, und stundenweise fassungslos, was bleibt von dir? Hoffentlich bist du auch am Tunnelende, aber am anderen, am richtigen, hast den Tunnel durchschritten, durchlebt, durchstorben, bist du am Anfang des Lichts, gehst hinüber, wirklich Tunnelende, hinein ins Licht, nimmst all dein Gepäck mit, all die wunderbaren Erinnerungen an uns, die Bilder taschenvoll. Die Zeit, die Blicke, die Begegnungen, die Umarmungen, die Liebe nimmst du mit, und gehst ins Licht, das uns nachts in dunklen Träumen durch die Hände rinnt. „Auch ich wollt ein Souvenir vom Tunnelende. … Irgendetwas, das uns zeigt, es tut gar nicht weh.“ Und es tut doch weh.

Souvenir
Nicht du – du auch. Gott das sagen hören, sprechen zum Sterbenden leise: Nicht du bleibst im Tod, nicht du bleibst tot, auch du, du auch kommst durch den Tunnel mir entgegen, auch du, auch dich empfange ich und führe dich ins Licht. Und zu jedem Trauernden Gott sprechen hören, zu jedem von euch: Nicht du bleibst allein am anderen Tunnelende, ich bin da, Gott, und tröste dich, nicht du bleibst in Dunkelheit, in Schmerz, in Frage; auch du, du auch bist von mir gehalten, geliebt, deine Tränen wische ich ab und sammele sie.
Beide in Gottes Hände hoffentlich: Eure Toten und Ihr, beide gehalten, geborgen in Gottes Hände. Beide in einer Hand. Doch nicht Worlds End, sondern diese Welt und danach, darin, mit ihr: eine andere Welt, jene ohne Tränenschmerz, ohne Geschrei, ohne Leid, ohne Tod, Himmel - und beide Welten, die unsere hier, und die dort mit dem, verloren Geliebten, verbunden, wir miteinander, verbunden durch Gott, in seiner einen Welt, jetzt und immer.
Kein Souvenir vom Tunnelende. Nein, eines von dort nach dem Tunnel, vom Licht, von der Ewigkeit, von eurem auferstandenen Menschen. Kein Erinnerungsstück. Nein, ein Stück mit Blick nach vorne, nach oben, hinaus, weit: T-Shirt, Hemd mit Taschen aufgenäht, Tassen mit Namen, in schweren Zeiten lausig, für uns alltäglich, tragen nach bestimmter Zeit kleine himmlische Konturen. Eure Verstorbenen werden im Himmel alles haben, woran ihr Herz hängt, jene Habseligkeiten in aller Seligkeit und dort warten sie geduldig auf die euren, auf euch. Im Himmel werden Tränen abgewischt, sie werden geweint, doch tun sie nicht mehr weh, brennen nicht mehr, Gott verwandelt sie, auch unsere Tränen, eure, eure auch. Amen.

Samstag, 9. November 2013

Solidarisch?




Predigt zur Eröffnung der ökumenischen Friedensdekade 2013
 am Drittletzten Sonntag im Kirchenjahr (10.11.13)

Fragezeichen
Nur ein Wort und ein Satzzeichen, so knapp, so elementar reduziert ist das diesjährige Motto der ökumenischen Friedensdekade: „Solidarisch?“ Wie viel Worte kennen wir noch, sprechen sie alltäglich, gehören zu unserem Wortschatz, wie oft setzen wir in Sprechen und Schreiben Satzzeichen, Komma, Doppelpunkte, Strichpunkte, Ausrufezeichen, Doppelpunkte, Punkte. Und im Meer all diese Worte und Satzzeichen für eine kleine Dekade von 10 Tagen ein bestimmtes Wort und ein bestimmtes Satzzeichen: „Solidarisch?“
Wer mag das Fragezeichen dahin gesetzt haben, hinter solidarisch? Das kleine Satzzeichen stellt sozusagen am Ende des Worts das ganze Wort, die ganze Sache in Frage, macht solidarisch fraglich. Nicht: Wem gegenüber solidarisch sein? Nicht: Warum solidarisch sein? Nicht: Wie solidarisch sein? Sondern ganz einfach und radikal ein Fragezeichen hinterm kleinen Wort und solidarisch ist überhaupt fraglich.
Ein Wort mit Fragezeichen und wer setzt das Fragezeichen dahinter? Menschen, ich, du auch, wir, die Gesellschaft, Umstände, Unachtsamkeiten, Langweile, Bosheit, Verzweiflung, Unwissenheit, Globalität, Beziehungslosigkeit, Hände, Worte, Taten von Menschen, all das setzt das Fragezeichen hinter „solidarisch“, und markiert zu Beginn eine kleine bittere Beklemmung: Solidarisch ist fraglich.

Adjektiv
Vorm Fragezeichen steht nicht „Solidarität“, kein Hauptwort, kein abstraktes Substantiv. Es steht ein Adjektiv, ein Wiewort: „solidarisch“. Wieworte beschreiben, sagen aus, legen nahe, ja verheißen, suchen, wollen sagen wie etwas ist, sein mag, wie Gesellschaft, wie Menschen sind. Ein Adjektiv – ist wie zugeschrieben, als würde jemand mit unsichtbarer Hand etwas nehmen und es neben uns stellen, wie uns darin verorten, und sagen: So sollst du sein. So bist du: solidarisch.
Die ökumenische Friedensdekade legt uns nahe, vor uns, vor dem, was wir so als Hauptworte, Personen sind, vor unsere Namen, ein Wiewort zu schreiben, zu denken, zu fühlen, zu sein: solidarisch. Und das Fragezeichen vergessen zu machen, durch einen Punkt, durch ein Ausrufezeichen, durch einen Doppelpunkt hinaus, weit hinaus in unser Leben zu ersetzen. Solidarisch:
Menschen im Zusammenhang, Menschen unsichtbar verbunden, verbunden durch Geschichte, Herkommen, durch ihnen gemeinsam Gegebenes. Menschen angewiesen, gemacht zueinander, füreinander, aufeinander, bedürftig und reich, beschenkt und mitteilsam, zusammengebunden auf einem Planeten, in einer Stadt, in einer Zeit, zu einer Aufgabe.
Menschen verbunden unsichtbar wie durch unzählige kleine feine Fäden, die sich durch alle Räume, Zeiten zwischen uns sich ziehen, gewoben, geknüpft sind, die unsere Bewegungen, unsere Erschöpfung, unsere Energie, unser Leiden, unser Handeln unsichtbar und bestimmt miteinander verbinden und voneinander wirklich abhängig machen: Jede Bewegung zieht am Faden, mit dem wir verbunden sind, und bewegt den anderen mit, und umgekehrt. Und alle sind verbunden im Netzwerk des Lebens, das alle Zeiten und Räume übersteigt, das mal fest, mal loser ist, mal fast zerreißt und wieder gestärkt wird, alle sind verknüpft letztlich mit Gott, der all diese Fäden zwischen uns, wie ausgelegt, geknüpft hat, sie immer weder mit sich verbindet und sie in seinen Händen hält und mit spürt, wie wir bewegen.

Ineinander
Solidarisch? Das Motto der Friedensdekade hat auch ein „Motto-Bild“. In zwei ganz klaren, deutlichen, satten Farben gemalt: blau und rot, blau ist die Grundfarbe, darin wird die rote Hand deutlich sichtbar. Zwei Hände, grundlegend verschieden, so wie Menschen es sind. Die blaue Hand ist kleiner, vielleicht jünger, vielleicht klein gemacht, vielleicht bedürftiger. Sie scheint sich wie auf die größere rote Hand zu legen.
Auf jeden Fall sind beide Hände aufeinander gemalt. Sie bleiben ls eigene sichtbar, sind aber in Beziehung, in Verbindung gebracht. Geht man mit dem Blick die Fingerspitzen entlang, dann zerfließen langsam die Konturen der Finger und Hände, nicht so, als würden diese beiden Händen sich ineinander schließen, aber so, dass sie an den Rändern merkwürdig zu einer Hand, zumindest zu einem Vorgang: „solidarisch!“ werden.
Das Bild, dass Menschen alle verbunden sind, wird auf einen Punkt gebracht, den Anfangspunkt oder Endpunkt, dass Hände einander sich berühren, dass Menschenleben einander sich berühren, bis sich ihre eigenen Konturen leicht vermischen, etwas wie ein Leben für Sekunden, eine Hilfe, eine gute Tat, ein Lächeln, einen Moment der Verbundenheit wird.
Woher dafür die Kraft, die Zeit, manchmal auch die Idee nehmen? Ein kleines, vielleicht letztes Fragezeichen hinter solidarisch, hinter „solidarischer Mensch“. Gottes grundlegende und leidenschaftliche Verbundenheit mit uns, die uns allen gemeinsam ist und genau jedem einzelnen immer in seinem eigenen Leben gilt, bildet sich ab, inkarniert in der Hand von Jesus: Wie er Brot bricht und es vermehrt, wie er sie auf blinde Augen legt und Sehen schenkt, wie er den Kelch nahm und allen das Leben gibt, wie letztlich Gott sich auf Menschenleben legt und sgöttliche und menschliche Lebenskonturen heilsam ineinander übergehen und dann nichts als Friede still wird, ist, Friede, den Gottes Hand schließt, Seelenfrieden, gerechter Frieden Punkt.