Samstag, 4. Juli 2015

Zu-Mutung Gottes



„Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer,
so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.“
 (Psalm 139, 9+10)

Predigt zur Einführung ins Evangelische Diakoniekrankenhaus am 3. Juli 2015

Einräumen
Und wenn Menschen ein ganzes Leben bräuchten, wenn sie sich mühten und nachdächten, wenn sie es morgens, mittags, abends irgendwie versuchten, immer wieder, vielleicht mit langen Lebenspausen, wenn sie es täten mit dem Verstand und der Logik, mit dem Herzen und vielleicht guten Ideen, es täten mit vielen Worten oder mit vergessenen Schweigen, sie würden es nicht vermögen, es gelänge ihnen nicht, keinem Menschen, nirgends, niemand, nicht von Anfang, als Menschenherzen begannen zu schlagen, nicht in Ewigkeiten, sie würden nicht fliehen können vor Gott, sie flöhen nicht.
Unter den Modi deutscher Verben mag ich den Konjunktiv eigentlich am liebsten. Er klingt schön, manchmal fremd, irgendwie aus fernerer Zeit. Ich mag ihn lieber als einen Indikativ, der immer weiß, was ist, der setzt und Tatsachen schafft; lieber auch als einen Imperativ, der befiehlt und anweist, Wirklichkeit auffordert zu sein. Konjunktive lassen dagegen irgendwie Raum, es könnte auch anders sein; Konjunktive sind manchmal herrlich irreal und entführen sprachlich in Gedanken in kleine Welten ferner Träume, die nie so kommen, und ein bisschen doch; Konjunktive drücken fast zart Wünsche aus und überlassen zurückhaltend anderen die Erfüllung. Konjunktive ermöglichen, von anderen zu erzählen, als erzählten sie selbst und man stünde in gebührender Distanz zum Gespräch, wundersame indirekte Rede.
Wie passen Konjunktive, die Distanz sagen, lassen, hierher, ans Krankenhaus, das von der Nähe lebt und erzählt: Nahe am Menschen? Wie passen „möchte, hätte, würde könnte, ließe“ zu alle den harten Fakten, Schlagzahlen, Kennziffern, dokumentierten Worten in diesem Krankenhaus der Indikative?

Nur weg
Und trotzdem und gerade, jetzt und hier: „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer.“ So zart, so leicht Flügel sein mögen, so oft sie in metallener Form uns in den Urlaub tragen mögen, so sehr wir unseren Kindern wünschten, dass ihnen Wurzeln und Flügel wachsen, so sehr manches Flügel verleiht und wir Himmelsstürmer seien, hier nicht, gar nicht, irgendwie anders, im Gegenteil: Hier sind Flügel Fluchtinstrumente und die Morgenröte etwas Letztes, das gerade noch wegtragen und retten könnte; ist hier das äußerste Meer das Maximum an Fluchtbewegung und weiter Ort fernab.
Flucht, innerlich, weit weg, weggetragen werden, nicht in der gefühlten Höllen-Mitte sein, sondern ganz am Rande, entfernt bleiben, sich verkriechen, verstecken, verbergen, weit weg, möglichst weit weg, von dem, was gerade schlimm ist, Not macht, verletzt, kränkt, Fehler, Versäumnis, Bedrohung, Unort ist. Tausend, mehr als tausend Flügel der Morgenröte, tausend, mehr als tausend äußerte Meere sehe ich auch hier, hier im Krankenhaus ja, vielleicht grad morgens, wenn die Station ganz aufwacht, der OP beginnt zu takten, die Verwaltung an Schreibtischen Platz nimmt, wenn alle hier ihre Arbeit tun und an sich tun lassen. Fluchtgedanken in sich: Würden mich jetzt bitte Flügel wegtragen, weg vom Bett und Diagnose, weg von Visite und Zahlenkolonne, weg von Terminüberflutung und Jourfix, weg von OP-Stress, Müdigkeit, Schuldzuweisung, Druck, Überforderung und trüge mich hinüber unsichtbar für alle, für Momente, lange, an einen anderen Ort, weit weg. Augen zu.

Auch dort
„Auch dort“. Zwei kleine Worte, zwei entscheidende. Ohne sie wäre der ganze Satz nichts. Auch dort. Selbst da, selbst wenn, selbst du. Menschen fliehen, fliehen vor Teilen ihres Lebens, vor anderen, vor sich, vor Gott und irgendwie suchen sie, suchen was, suchen sie sich, suchen vielleicht Gott mitten im Weglaufen und werden wie paradox gefunden, immer wieder von IHM gefunden.
Überall. Eine Zu-Mutung Gottes. Mit Bindestrich geschrieben und für uns alle MUT groß. In alle Konjunktiven der Menschenwelt kehrt Gottes Indikativ ein: Auch dort will er sein, unbedingt. Kann er sein, wirklich. Wird er sein, für uns. Ist er. Indikativ: Auch dort führt mich deine Hand und deine Rechte hält mich, genau dort, wohin ich fliehe, ich mich wegtragen lassen, wo ich am Äußersten bleibe, geflohen aus Angst, aus Selbstzweifel, aus Fremdheitsgefühlen, aus merkwürdigen Stolz, aus Kleinmut, aus Fehlern, Schuld, Not, anderer Worte. Mitten hinein in die tausend und mehr Flügel der Morgenröte, der tausend und mehr äußersten Meere hier und überall dort ist Gottes Hand.



In Gottes Hand
Gottes Hand führt und hält, leitet und birgt. Jeden einzelnen Menschen. Gott weiß um den Mensch, in wartender Geduld. Gott kennt ihn, vom ersten Atemzug an. Gott sieht ihn, leidet und freut sich mit, Gott lässt frei und sucht, findet und verliert sich in uns, er liebt uns mehr als sich.
Gottes Hand führt und hält, leitet und birgt. Auch dieses Krankenhaus. Es liegt komplett in seiner Hand. Absolut Geborgen. Ein wunderbares Bild, ein wunderbare Wahrheit. In allen notwendigen Sichtweisen auf dieses Haus ist dies Gottes Sicht selbst. Anders kann er es in seiner Liebe nicht schauen. Und so steht für alle, die mit ihm schauen, alles hier in diesem Horizont, alles Tun und Lassen, alles Denken und Planen, alles Pflegen und Operieren, alles Verwalten und Umsorgen, jeder Einzelne und alle zusammen in Gottes Hand. Eine Zu-Mutung – MUT immer noch groß geschrieben - für alle, die hier arbeiten und für Zeit hier als Patienten leben. Vor Gott können wir wirklich nicht fliehen. Zum Glück. Seit Jahrhunderten betet Menschenleben wie wir heute jenen Psalm und plötzlich verwandelt sich ein dunkler Konjunktiv zum Indikativ: „Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein –,so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.“ Seit Jahrhunderten mündet betend alles ein in das Lob Gottes. Ein Lob, das in Gottes liebenden Blick gründet, ein Lob, das ein Krankenhaus mit Seele in Gänge und Räumen selbst mit sich zu Gott spricht: „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.“ Amen.

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