„Nähme ich Flügel der Morgenröte und
bliebe am äußersten Meer,
so würde auch dort deine Hand mich
führen und deine Rechte mich halten.“
(Psalm 139, 9+10)
Predigt zur Einführung ins Evangelische Diakoniekrankenhaus am 3. Juli
2015
Einräumen
Und wenn Menschen ein ganzes Leben
bräuchten, wenn sie sich mühten und nachdächten, wenn sie es morgens, mittags,
abends irgendwie versuchten, immer wieder, vielleicht mit langen Lebenspausen,
wenn sie es täten mit dem Verstand und der Logik, mit dem Herzen und vielleicht
guten Ideen, es täten mit vielen Worten oder mit vergessenen Schweigen, sie
würden es nicht vermögen, es gelänge ihnen nicht, keinem Menschen, nirgends, niemand,
nicht von Anfang, als Menschenherzen begannen zu schlagen, nicht in Ewigkeiten,
sie würden nicht fliehen können vor Gott, sie flöhen nicht.
Unter den Modi deutscher Verben mag
ich den Konjunktiv eigentlich am liebsten. Er klingt schön, manchmal fremd, irgendwie
aus fernerer Zeit. Ich mag ihn lieber als einen Indikativ, der immer weiß, was
ist, der setzt und Tatsachen schafft; lieber auch als einen Imperativ, der
befiehlt und anweist, Wirklichkeit auffordert zu sein. Konjunktive lassen dagegen
irgendwie Raum, es könnte auch anders sein; Konjunktive sind manchmal herrlich
irreal und entführen sprachlich in Gedanken in kleine Welten ferner Träume, die
nie so kommen, und ein bisschen doch; Konjunktive drücken fast zart Wünsche aus
und überlassen zurückhaltend anderen die Erfüllung. Konjunktive ermöglichen,
von anderen zu erzählen, als erzählten sie selbst und man stünde in gebührender
Distanz zum Gespräch, wundersame indirekte Rede.
Wie passen Konjunktive, die Distanz
sagen, lassen, hierher, ans Krankenhaus, das von der Nähe lebt und erzählt:
Nahe am Menschen? Wie passen „möchte, hätte, würde könnte, ließe“ zu alle den
harten Fakten, Schlagzahlen, Kennziffern, dokumentierten Worten in diesem
Krankenhaus der Indikative?
Nur weg
Und trotzdem und gerade, jetzt und
hier: „Nähme ich Flügel der Morgenröte
und bliebe am äußersten Meer.“ So zart, so leicht Flügel sein mögen, so oft
sie in metallener Form uns in den Urlaub tragen mögen, so sehr wir unseren
Kindern wünschten, dass ihnen Wurzeln und Flügel wachsen, so sehr manches
Flügel verleiht und wir Himmelsstürmer seien, hier nicht, gar nicht, irgendwie
anders, im Gegenteil: Hier sind Flügel Fluchtinstrumente und die Morgenröte
etwas Letztes, das gerade noch wegtragen und retten könnte; ist hier das
äußerste Meer das Maximum an Fluchtbewegung und weiter Ort fernab.
Flucht, innerlich, weit weg, weggetragen
werden, nicht in der gefühlten Höllen-Mitte sein, sondern ganz am Rande,
entfernt bleiben, sich verkriechen, verstecken, verbergen, weit weg, möglichst
weit weg, von dem, was gerade schlimm ist, Not macht, verletzt, kränkt, Fehler,
Versäumnis, Bedrohung, Unort ist. Tausend, mehr als tausend Flügel der
Morgenröte, tausend, mehr als tausend äußerte Meere sehe ich auch hier, hier im
Krankenhaus ja, vielleicht grad morgens, wenn die Station ganz aufwacht, der OP
beginnt zu takten, die Verwaltung an Schreibtischen Platz nimmt, wenn alle hier
ihre Arbeit tun und an sich tun lassen. Fluchtgedanken in sich: Würden mich
jetzt bitte Flügel wegtragen, weg vom Bett und Diagnose, weg von Visite und
Zahlenkolonne, weg von Terminüberflutung und Jourfix, weg von OP-Stress, Müdigkeit,
Schuldzuweisung, Druck, Überforderung und trüge mich hinüber unsichtbar für
alle, für Momente, lange, an einen anderen Ort, weit weg. Augen zu.
Auch dort
„Auch dort“. Zwei kleine Worte, zwei
entscheidende. Ohne sie wäre der ganze Satz nichts. Auch dort. Selbst da,
selbst wenn, selbst du. Menschen fliehen, fliehen vor Teilen ihres Lebens, vor
anderen, vor sich, vor Gott und irgendwie suchen sie, suchen was, suchen sie sich,
suchen vielleicht Gott mitten im Weglaufen und werden wie paradox gefunden,
immer wieder von IHM gefunden.
Überall. Eine Zu-Mutung Gottes. Mit
Bindestrich geschrieben und für uns alle MUT groß. In alle Konjunktiven der
Menschenwelt kehrt Gottes Indikativ ein: Auch dort will er sein, unbedingt.
Kann er sein, wirklich. Wird er sein, für uns. Ist er. Indikativ: Auch dort
führt mich deine Hand und deine Rechte hält mich, genau dort, wohin ich fliehe,
ich mich wegtragen lassen, wo ich am Äußersten bleibe, geflohen aus Angst, aus
Selbstzweifel, aus Fremdheitsgefühlen, aus merkwürdigen Stolz, aus Kleinmut,
aus Fehlern, Schuld, Not, anderer Worte. Mitten hinein in die tausend und mehr
Flügel der Morgenröte, der tausend und mehr äußersten Meere hier und überall
dort ist Gottes Hand.
In Gottes Hand
Gottes Hand führt und hält, leitet
und birgt. Jeden einzelnen Menschen. Gott weiß um den Mensch, in wartender
Geduld. Gott kennt ihn, vom ersten Atemzug an. Gott sieht ihn, leidet und freut
sich mit, Gott lässt frei und sucht, findet und verliert sich in uns, er liebt
uns mehr als sich.
Gottes Hand führt und hält, leitet
und birgt. Auch dieses Krankenhaus. Es liegt komplett in seiner Hand. Absolut Geborgen.
Ein wunderbares Bild, ein wunderbare Wahrheit. In allen notwendigen Sichtweisen
auf dieses Haus ist dies Gottes Sicht selbst. Anders kann er es in seiner Liebe
nicht schauen. Und so steht für alle, die mit ihm schauen, alles hier in diesem
Horizont, alles Tun und Lassen, alles Denken und Planen, alles Pflegen und
Operieren, alles Verwalten und Umsorgen, jeder Einzelne und alle zusammen in
Gottes Hand. Eine Zu-Mutung – MUT immer noch groß geschrieben - für alle, die
hier arbeiten und für Zeit hier als Patienten leben. Vor Gott können wir wirklich
nicht fliehen. Zum Glück. Seit Jahrhunderten betet Menschenleben wie wir heute jenen
Psalm und plötzlich verwandelt sich ein dunkler Konjunktiv zum Indikativ: „Spräche ich: Finsternis möge mich decken
und Nacht statt Licht um mich sein –,so wäre auch Finsternis nicht finster bei
dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.“ Seit
Jahrhunderten mündet betend alles ein in das Lob Gottes. Ein Lob, das in Gottes
liebenden Blick gründet, ein Lob, das ein Krankenhaus mit Seele in Gänge und
Räumen selbst mit sich zu Gott spricht: „Ich
danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke;
das erkennt meine Seele.“ Amen.
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