Samstag, 27. Juni 2015

Im Spiegel der Barmherzigkeit



Predigt für den 4. Sonntag nach Trinitatis
 (28. Juni 2015)

Lukas 6, 36-42
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.  Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen. Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?  Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!

Spiegel
Mit diesen Worten hält Jesus einen Spiegel vor.  In einem Spiegel – so meint man – da sieht man sich, wie man wirklich ist, manchmal mit Schrecken, manchmal mit Freuden. Was sehen wir, wenn wir in den Spiegel blicken?
Spiegel begegnen uns in unserem Leben auf Schritt und Tritt. Im Auto: Der Rückspiegel; ganze Ladenpassagen in Großstädten; in Kaufhäusern. Bei uns zu Hause: Sicher im Badezimmer, im Gang bei der Garderobe, im Schlafzimmer und viele haben einen kleinen Spiegel in der Handtasche. Wir schauen uns am im Spiegel morgens beim Zähneputzen oder Rasieren, abends beim Abschminken; wir schauen verschlafen rein, drücken Pickeln bewundern unsere neuen Kleider, zupfen uns zu recht, perfektionieren unsere Frisur, regen uns über Haarwirbel auf; entfernen Schlafmännchen, ziehen den Lidschatten nach, ärgern uns über Falten und Fettpolster, über Flecken auf Hemdkragen und Bluse.
Bei alle dem, bei all den vielen flüchtigen Blicken in den Spiegel: Schauen wir im Spiegel uns – uns! – wirklich an? Sozusagen Augen in Auge, trauen wir uns das, den nackten Tatsachen unseres Lebens zu stellen? Wirklich in den Spiegel zu sehen und uns zu sehen, wie wir wirklich sind, was da uns a gelebten Leben entgegen schaut? An dem, was wir getan haben, zu tun gedenken, und so sehen wir mit im Spiegel irgendwie unsere Geschichte und wir sehen im Spiegel auch all anderen, irgendwie unsere ganze Welt mit uns im Blick.



Fenster
Manchmal stehe ich am Fenster und schaue – vielleicht nur kurz - raus; an einem belebten Tag; schaue mir die Menschen an, die die Straße entlang gehen, die mit ihren Auto vorm Bäcker halten, die hastige Sprechstundehilfe; die laut schreienden Kinder, die älteren Leute, die zum Arzt gehen. Ich schaue aus dem Fenster und sehe, wie sie unbeobachtete ganz normal sind, Werktagsmenschen, halb in Eile, nicht extra zurechtgemacht.
Ich schaue sie an: Manche gehen ganz aufrecht und ich denke mir, ob die immer so sind. Manche gehen gebückt, haben den Kopf zur Erde gesenkt, und ich frage mich, was ist denen denn passiert? Ich schaue sie mir an, ein bisschen in sie hinein und denke mir ihr Leben: Was für Erfahrungen haben die wohl gemacht? Welche schmerzliche, bitteren, leidvollen. Wie führen die ihr Leben und was ist bei ihnen schlecht gelaufen. Und dann denke ich mir: Vielleicht verbirgt sich hinter der einen oder dem anderen auf der Straße, jemand, der seit Jahren schwer an etwas trägt, der sich für einen Moment hinreißen ließ, der mutwillig war, der schuldig ist oder jemand der ohne Schuld sich mit Dunklem beladen hat und das nicht mehr loskriegt.
Und aus den Menschen auf der Straße wird eine merkwürdige Gemeinde, eine Gemeinde auch aus Sündern:  Aus Menschen, die weder besonders groß noch klein sind, die weder besonders gut noch böse sind, sondern Menschen, die davon leben, dass man ihnen vergibt, eben eine Gemeinde aus Sündern. Menschen, die es brauchen, dass sie nicht verurteilt oder verdammt werden, die es nicht brauchen, dass ihnen vergelten wird oder sei noch etwas genommen wird, die andere Menschen brauchen, die nicht über sie hinwegschauen, sie richten und verurteilen, andere Menschen, die selbst wissen, dass sie gebrechlich sind, und die sich deshalb anrühren lassen, vom Hässlichen, von Fehlern und Sünde und bereit sind, nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten, sondern zu vergeben. Menschen brauchen andere Menschen, die barmherzig sind, die im Herzen klagen über Unglück und Elend, großes wie kleines, die sich angehen lassen, vom Leid und mitleiden.

Gottes Vision
Schauen wir in diese kleine Welt durch Fenster, schauen wir in unseren Spiegel. Wir können uns selber sehen, sehen als Menschen, die genau das brauchen, dass man barmherzig zu ihnen ist. Menschen, die Fehler machen, die Sünden begehen, die um ihre Würde kämpfen, die fehl gehen und schuften und Heil wie Heilung suchen. Menschen, so wie wir und andere eben sind: irgendwie furchtbar groß und herrlich und doch immer auch furchtbar elend und klein; Menschen die nicht gerichtet noch verdammt werden wollen, die nicht verurteilt werden wollen. Einfach Menschen, die mitten in ihrem Stolz doch Vergebung brauchen, von Gott und den Menschen, die aus Vergebung leben. Vielleicht können wir uns so ehrlich im Spiegel sehen, klein groß sehen.
Und wenn wir uns so im Spiegel sehen, können wir leben, wie Jesu es sieht. Wer von der Vergebung lebt, kann vielleicht auch vergeben; wer vom Erbarmen lebt, kann sich auch erbarmen.
Vielleicht können wir dann im Spiegel der Barmherzigkeit nicht richten, nicht verdammen, vergeben und geben; erst den eigen Splitter sehen und dann den im Auge des andern. Das sind keine ungeheuren Forderungen, sondern der Geist Gottes, der in die Welt Einzug gewinnen will:
Es sind Visionen Jesu und Gottes, wie unser Zusammenleben, wir eine Gesellschaft aussehen könnte, welche Werte wir durch unser Tun hinein in die Welt bringen und dort bewahren, Werte, die ihren Wert in sich, in dem haben, der sie uns spendet: in Gott. Werte, weil wir Gott wertvoll sind und er unser leben möchte:
Die Vision einer Menschheit, in der nicht gerichtet wird, in der nicht verdammt wird, in der vergeben wird und in der jeder, was er braucht bekommt; eine Menschheit, wo Blinde und Sehende einander führen und es Gruben zum Reinfallen nicht gibt; wo Jünger auf die Meister hören und Meister Jünger Weisheit schenken; eine Menschheit, wo Balken und Spliter aus den Augen verschwinden, alle wieder sehen; und man sich gegenseitig die Wunden verbindet, die man noch hat, und heil wird.
So eine Menschheit, solche Menschen wären für Gott, wenn er aus seinem Himmelsfenster auf uns blickt, ein Spiegel, ein Spiegel, in dem er sich selbst gerne spiegeln würde, in dem er sich selbst wirklich wieder erkennen kann. Amen.

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