Samstag, 9. November 2019

Flieg


Predigt zu „Mit meinem Gott überspringe ich Mauern“ am 9. November 2019, dreißigster Jahrestag des Mauerfalls

„Denn … mit meinem Gott [kann ich] über Mauern springen.“ (Psalm 18, 30b)

Mit meinem Gott überspringe ich Mauern. Kann ich das. Können Menschen das. Menschen so wie sie sind, mit all ihren Beschränkungen, Ängsten, Hoffnungen, mit ihrer mal schweren, mal leichten Seele. Mit meinem Gott überspringe ich Mauern. Kann ich das. Mit ihm, den ich mein nenne, der mir nahe ist, der mich sein nennt, mit ihm zusammen kann ich das. Er gibt mir dazu Kraft, Mut, Geschick, den Willen, den Halt. Dass ich das kann. Mit ihm meine Mauern überspringen, die in mir und die außerhalb von mir. Nur: Wo ist Gott genau, wenn wir die Mauern überspringen?

Vor der Mauer stehen
Ich stehe vor der Mauer. Es ist meine, denn sie steht vor mir. Sie fragt mich an, sie geht mich an. Sie steht vor mir und irgendjemand hat sie vor mich gestellt, irgendetwas, vielleicht sogar ich selbst. Sie steht da und ich meine nicht die guten Mauern, die zwischen meinen Räume stehen, meine Räume einteilen und voneinander trennen, die mich schützen gegen den Wind im Herbst, der Kälte des Winters, den mutwilligen Einbrechern, die mich schützen, das, was ich habe und was ich bin. Diese Mauern nicht.
Sondern Mauern, die nicht gut sind, die nicht gut tun, die wie hineingestellt sind in mein Leben, bedrohlich, dick, hoch, schwer, dunkel, gebaut aus Angst und Schuld, aus Unwissen und schiefen Geschichten. In mir, vor mir. Da und kaum zu überwinden.
1378 km war die Mauer damals lang, allein in Berlin 168 Km, errichtet am 13. August 1961, quer durch große Stadt und weites Land, durch eine gemeinsame Geschichte, durch Familien, durch Herzen. Trennend, gebaut aus Stein und Beton, aus Angst, aus Staatsräson, unverständlich, scharf bewacht, mit Todesopfern.
Was machen wir mit unseren Mauern? Was machen wir, wenn wir vor ihr stehen? Der Mauer in uns und knapp außerhalb von uns. Vor ihr weichen? Zurückgehen wieder zu uns, ihr den Rücken kehren und mit dem leben, was vor der Mauer ist und bleibt? Sich wieder zurechtfinden, vielleicht sogar im Grunde fürchten, sie wirklich zu überwinden, es würde Neuland sein. Was machen wir mit den Mauern? Als Kinder vielleicht sind wir über die kleineren Mauern hinübergekraxelt, hinübergeklettert, in des Nachbars Garten vielleicht. Einfach so in fremdes Land. Die Berliner Mauer wurde nicht übersprungen. Sie wurde eingerissen mit Kerzen und Gebeten, gemeinsam durch friedlichen Protest. Diese große Mauer wurde abgerissen, abgetragen, sie ist weg. Und doch ist immer noch etwas von ihr da. In Menschen, beiderseits der ehemaligen Mauer.

Wenn ich fliege
Wie wäre das, wenn ich meine Mauer, vor der ich stehe, innerlich und äußerlich, wenn ich diese große, dunkle, schier unüberwindbare Mauer überspringen würde? Ich müsste mich abstoßen, um zu springen, abstoßen von Ort, von dem, was vor der Mauer ist, was mein bisheriges Leben ist, abstoßen und mich beginnen zu strecken, zu recken, mit meinem Lebensbeinen und Lebenshänden, mich dem Sprung förmig machen, ducken, dehnen, ausstrecken nach dem, was hinter der Mauer ist, was ich dort erwarte, ersehne, erhoffe, was die anderen mir von dort erzählen. Will ich dorthin? Dorthin will ihn!
Im Sprung muss ich ein bisschen Fliegen, alles loslassen, sonst werde ich niemals drüben landen. Ich muss ein Weg weit fliegen, nur ich in der Luft, so wie ich bin, schwer und leicht, Mensch, der nicht fliegen kann, muss ich fliegen und auf der anderen Seite ankommen, dort wieder meinen Fuß auf neues Land setzen, irgendwie dorthin gelangen hinter meine Mauer. Fliegen haben wir nie richtig gelernt. Wir schauen hinunter. Wird es reichen? Sollen wir umkehren? Angst und Hoffnung. Losgelassen, losgesprungen. Mein Sprung verwandelt mich, mein Leben vor der Mauer, ich werde ein anderer. Und bekomme eine Antwort nach dem Sprung, nach dem kleinen Flug: was da ist, endlich hinter der Mauer.

Nach der Mauer
Ist für die Menschen, die den Bau der Berliner Mauer, der Mauer quer durch Deutschland, erlebt haben, die sich vielleicht täglich fragten, was von ihr zuhalten wäre, die den Fall der Mauer miterlebten, über die Grenzen gingen nach fast 30 Jahren und vor genau 30 Jahren, die mit Hilfe der Weltgeschichte die Mauer übersprangen, ist für diese Menschen hinter der Mauer das gewesen, was sie sich ersehnt, erhofft, erwartet haben?
Hinter der Mauer beginnt das Leben nach der Mauer. Vor der Mauer ist das eine. Den Sprung wagen ist das andere. Ein Drittes ist, hinter der Mauer zu leben, in dem inneren und äußeren Land, wo die Mauer, das Leben nicht mehr bestimmt, wo das, was sie errichtet und gebaut, erschaffen hat, nicht mehr da ist, wo die eigenen Mauerängste, Mauerschulden, Mauertage übersprungen und überwunden sind. Dort leben, ist leben, ist neues Leben. Darauf kommt es dann an. Hinter der Mauer nach dem Sprung.

Mit meinem Gott überspringe ich Mauern. Kann ich. Die Menschen vor 30 Jahren haben den Mauerfall als Geschenk Gottes gesehen, die Kraft der Gebete und Kerzen, die Kraft der Bergpredigt und der Kirchen in der DDR haben den Sprung mit Gottes Hilfe schaffen lassen. Sie haben Gott als Mauerspringer erlebt. Noch einmal: Wo genau ist Gott, wenn wir mit ihm unsere Mauern überspringen?
Gott steht mit uns vor unserer Mauer. Kennt unser Zögern und Hadern, unser Beten und Bitten, unser Zurückweichen und Wagen. Gott ist auch hinter der Mauer, wenn wir gesprungen sind. Er wird dort sein, wo wir nach der Mauer leben, weiterleben, er wird dort sein und uns genauso halten und tragen, lieben und auf uns setzen. Und im Sprung, in jenem kleinen Augenblick des wagemutigen Fluges über die Mauer? Dort ist auch Gott. Er springt mit. Er fliegt mit. Mitten im Flug umhüllt er uns, trägt er uns unsichtbar hinüber. Vertraut. Vertraut den neuen Wegen. Amen.

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