Predigt am
Sonntag Estomihi (7.2.16)
Unvorstellbar
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und
hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende
Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und
alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und
hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den
Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die Liebe nicht, so wäre
mir's nichts nütze. (1. Korinther 13, 1-3)
Und hätte
die Liebe nicht. Was wäre dann? Wer wären wir dann, dann, wenn wir die Liebe
nicht hätten, in uns, bei uns, um uns herum, sie nicht hätten, die Liebe. Wer
wären wir dann? Andere? Würden unsere Worte anders klingen, rauer, einsamer,
ungeduldiger, unsere Bewegungen andere sein, unsere Hände, anders sich
anfühlen, anders berühren. Unser Gesicht wäre das ein anderes, würde manche
Falten fehlen, würde den Glanz wir vermissen? Wie würde unser Leben aussehen,
der Lauf der Welt überhaupt? Würden die Dinge anders laufen, manches nicht
passieren und anderes doch? Wäre alles das gleiche, oder weniger oder nichts.
Und hätten
die Liebe nicht. Was wäre, wenn das Entscheidende fehlen würde, nicht da wäre.
Das, was den Ausschlag gibt, was wirklich, wenn es fehlt. Ohne das, alles nicht
das ist, was es ist und sein soll. Das, was die Dinge, was geschieht und die
Menschen vollendet, ganz auf eigene, auf ihre Art, nicht perfekt macht, aber
allem erst seine Tiefe und seinen Grund gibt, seine Würde und seinen Glanz,
seine Güte und seinen Wert, sein Reichtum und seine kleine Ewigkeit. Das, ohne
das, die Welt, wir nicht die sind, die wir wären.
Und hätten
die Liebe nicht. Gott sei Dank: ein Konjunktiv, ein Irrealis, ein irres: Was
wäre wenn. Aber: Indikativ: Wir haben die Liebe, wir haben sie bekommen, wir bekommen
sie, zugesagt, zugesprochen zugedacht, hinzugegeben. Immer liebt uns einer
zuerst, tiefer, inniger, bereitwilliger, länger, schöner. Immer sind wir zuerst
Geliebte, angeschaute, barmherzig gemeinte Menschen. Ist die Liebe uns unendlich
voraus und da.
Da sein lassen
Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe
eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie
verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht
erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die
Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie
glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. (1.
Korinther 13, 4-7)
Die Liebe
macht sich klein und ist so groß, so wunderbar gefüllt. Sie trägt alles in
sich, das Leben selbst: Worte, die beistehen; Gedanken, die Sinn suchen;
Freude, die umarmt; Schmerz, der um Verzerrung weiß; Hoffnung, die durch
Zweifel geht; Wahrheit, die barmherzig ist. Die Liebe macht sich mit all dem
klein und den, den sie liebt dadurch groß, wertvoll, vollendeter. Sie gibt ihm
alles, was sie hat, teilt aus unerschöpflich, wird selbst beim anderen wahr und
ganz sie selbst.
Die Liebe
wartet auf den, den sie liebt, lässt ihm Raum und Zeit, wird nicht irr an
Abständen und Distanzen, an offenen Fragen und stillen Minuten, an merkwürdig
Entgegengebrachtem, am Widerständigem, am Dunklem. Sie stellt sich selbst nicht
in den Mittelpunkt, sieht von sich weg, wendet sich zu, sie wird zum
Mittelpunkt für den, den sie liebt, beide drehen sich um den anderen und finden
sich, erkennen sich im anderen als die, die sie sind, für Sekunden, für sich,
für andere, die Welt. Die Liebe macht sich klein und ist die größte, sie lässt
dem anderen sein Dasein, will nur dies: sein Dasein, sie schenkt hm Dasein das
jeden Moment, neu und immer wieder. Sie will, dass er da sein kann, dass er
bleibt.
Bin bei dir
Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden
aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören
wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist
Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk
aufhören. Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein
Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was
kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber
von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich
erkennen, wie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese
drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. (1. Korinther 13, 8-13)
Es bleibt
nur übrig zu lieben. Das Leben selbst ist Stückwerk: Alles, was Menschen tun
und lassen, reden und denken, ersinnen und planen, sehen und hören ist immer
nur ein Stück, ein Stück neben anderen Stücken, ein Stück von vielen, ein Stück
vom Ganzen, ein Ganzes, was wir nie ganz sehen, nie ganz wissen, nie haben.
Alles setzt sich zusammen aus Einzelstücken und wird gleich einem Mosaik nach
und nach zusammengesetzt und der letzte, ganze Sinn von allem, das ganze Bild
wird erst am Ende sichtbar, nie jetzt schon in der Zeit. Da ist vieles
Ausschnitt, Teilbereich, eine halbe Sache, bisschen wahr, da bleibt vieles
offen, passt manches nicht recht zusammen, wirkt manchmal wie herausgebrochen, ja
wie dunkel und noch merkwürdig verschlossen.
Es bleibt
nur übrig zu lieben. Bis an die Ewigkeit heran, bis alles sein Ende hat und
vollendet wird, bis alle Stücke gefunden, das Mosaik ein Bild, bis wir alle
sehen, wer wir sind, wirklich geworden sind in all unseren Tagen und Stunden,
in all unseren Taten und Versuchen, in all den Facetten und Möglichkeiten,
Verlusten und Tränen, mit all den anderen. Bis alles klar ist und herrlich und wir
ganz bei Gott und alle von Angesicht zu Angesicht da sind und Liebe es nicht
mehr braucht.
Bis dahin
und jetzt bleibt nichts anderes übrig als zu lieben. Das ist alles. Bis dahin brauchen
wir die Liebe. Brauchen wir die Kraft, die wir nicht haben, besitzen oder gar
sind, die da ist und wirkt, die da ist und uns trägt, die da ist und bleibt, die
jedes Stückchen Leben so anschaut, so nimmt, so es umliebt als sei es schon das
Ganze, als wäre es nicht Stück, als wäre es mein Leben ganz. Amen.
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