Freitag, 18. Oktober 2013

Durch Hohes und Tiefes



Predigt zur Einführung des neuen ESG-Gesangbuchs am 21. Sonntag nach Trinitatis (20.10.13)

Labyrinth
„Durch Hohes und Tiefes“ lesen wird auf dem Einband unseres neuen Gesangbuchs mit neuen Liedern. Ein Verb, ein Tuwort fehlt. Nur eine Richtungsangabe: Durch Hohes und Tiefes, durch Hohes und Tiefes hindurch, Tiefes und Hohes durchschreiten, durchleben. Und wenn wir länger denken, länger gehen, dann wünschten wir uns, dass das „und“ auch fehlen würde, nur durch Hohes hindurch.
Mit rotem Schriftzug steht aber „Durch Hohes und Tiefes“ auf unserem Liederbuch. Rot, weil es ins Auge stechen soll, weil das das Wesentliche ist: Das Hohe und Tiefe, die Höhepunkte und Tiefpunkte, das was prägt, was Leben ausmacht. In roter Farbe wie ein roter Faden, wie ein elementarer Geh-Weg im Leben. Dabei ist das „durch Hohes“ kleiner geschrieben als das „und Tiefes“, das Hohe kleiner als das Tiefe, weil das Tiefe auch immer tiefer ist als das Hohe hoch, bittrer, schlimmer, prägender?
Unter der Überschrift, den Titel, ist in gleicher Farbe wie der ganze Einband etwas eingeprägt, ein Bild, eigentlich zwei Bilder: ein Baum als Labyrinth, ein Labyrinth als Baum. Zwei Bilder ineinander für das eine Leben: Der Baum steht für das Wachsen und Werden des Lebens, für die Lebensäste, die unser Leben treibt, für totes Holz und Abschiede, für Wurzeln, die wir haben, für die Krone, die uns mal aufgesetzt wird, für das Blühen, Welken, den Atem, den wir haben und geben. Das Labyrinth darin steht für Suchen und Finden, für Außen und Innen, für Mitte und Gehen. Dieses Labyrinth hat keinen rechten Eingang und Ausgang. Man lebt immer darin. Es hat Sackgassen, immer wieder heilsame Punkte der Umkehr, es hat keine rechte Mitte, die man erreicht, immer nur Annäherung ans vollkommene Glück, wie im Leben. Es hat geprägt Höhen und Tiefen, als würde man in ihm auf den hohen Lebensgraden gehen können, erhoben, balancierend, absturzgefährdet, und als würde man in den Tiefen eingeprägt gehen, eingefurcht, beklemmend eng, aber irgendwie auch merkwürdig umgeben, eingerahmt.

Spielball
„Weder Hohes noch Tiefes“ kann uns von der Liebe Gottes scheiden. Das haben wir vorhin zusammen Paulus nachgesprochen, gebetet. Seine Gedanken sind Gedanken, sind Worte wie im Labyrinth. Gehen im Kreis, gehen hin und her, fragen, suchen, tasten um die Ecke, ins Dunkle, ins Vage: Was kann uns trennen von der Liebe Gottes? Was kann passieren? Was könnte? Was könnte zwischen ihm und uns treten? Gibt es etwas, was uns von ihm scheidet? Reißt der Lebensfaden? Verliere ich mich?
Wie ein Spielball das Fragen, das Leben, man selbst wie ins Labyrinth geworfen, nicht mehr Herr der eigenen Lage, der eigenen Kräfte, Geschichte, ausgesetzt, hin- und hergeworfen, Widersacher, Widerwärtiges, Verlorenheit vor Augen, im Gefühl. In Tiefen und in Höhen ausgesetzt etwas Größerem, etwas Mächtigem, etwas Mächtigeren als wir; wir nicht mehr, nie nur unser selbst, sondern immer auch geworfene, gemachte, gelebte Menschen.
Am Ende der Gedanken von Paulus, kreisend, im Labyrinth, steht, kommt zu stehen, erscheint: Gott ist für mich. Er hat mich auserwählt, sich für mich und mein Leben entschieden. Er hat mich mit Leben, mit Geist, mit Seele und Menschen beschenkt. Er tritt für mich ein. Er hält uns. Nichts, gar nichts, nichts auf dem Weg im Labyrinth, auf Höhen und Tiefenwegen, durch Hohes und Tiefes hindurch, Nichts kann uns scheiden, trennen, wegbringen von Gott und seiner Liebe zu uns. Nichts. Überhaupt nichts. Wir werden gehalten. Alles hat einen Grund, einen Tiefen-, ja Höhengrund, eine Durchfärbung. Wie das kleine Gesangbuch, das wir in Händen halten.

Getragen
Mit ihm halten wir 444 Lieder in den Händen, dazu Psalmen, biblische Texte, unzählige Worte, Worte von Leben, Gott, Glaube, Hoffnung, Leiden, von Verwandlung, Lob, Liebe und Tod. Abertausende Worte mit abertausenden Noten versehen, unzählige Noten, Töne, Erfahrungen, Durchlebtes, Melodien, Lebengestimmtes – haben wir in Händen zum Singen bereit.
Mit jedem Ton, den wir singen, jeder Notenlinie, jeder Melodie - und sei es noch so zaghaft, ungeübt, leise - bleiben wir nicht stumm, nicht still, nicht bei uns. Wir singen etwas heraus aus den gedruckten Buchseiten, aus dem Leben, das sich darin niedergeschrieben hat, aus uns selbst. Wir singen unser Lied, in ihm klingt unser Leben, wir singen aus der tiefen Quelle und Leben aus dir, Gott. Unsere Gedanken, Worte werden laut, gewinnen Raum, erklingen, haben Resonanz, in diesem Gebäude, schallen ab, in unseren Ohren gegenseitig, in unseren Herzen zurück.
Das, was wir singen, tritt uns wie gegenüber, nicht wirklich sichtbar, aber hörbar, vernehmbar, all diese tonhaften Worte, all diese klingenden Sätze, all das besungene Leben. Wir singen es gemeinsam, zu gleichen Zeitpunkt die gleichen Worte in fast gleichen Töne, wir singen miteinander, füreinander, zueinander. Wir sprechen uns nicht nur all das zu, lesen es uns nicht nur vor, sondern wir stellen es uns gesungen wie gegenseitig gegenüber und singen es uns zu, als das, was ich dir sagen, geben, schenken möchte, aus Herzens Grund, eingeladen, geborgen in Gottes Angesicht.
Hohes und Tiefes geteilt, Leben eben, erlebt, erfahren, erlitten, durchstanden. Hohe und tiefe Töne, aneinander gereiht, zur einer Melodie, die wir auf dem Weg durchs Labyrinth singen, mal leiser, mal mutiger, mal gefasster, mal fast verloren, mal kräftig, mal auf Stimmenhilfe angewiesen, eine Melodie, die uns singt, in der Gott uns lichtfroh geborgen fest in seinen Händen hält, Gott uns alle gemeinsam durch Hohes und Tiefes hindurch trägt. Amen.

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