Mittwoch, 23. November 2011

Engel mit Sanduhr


[Für Christian]
„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“

Wirr im Kopf
Die Gedanken drehen Karussell, und alles dreht sich mit. Wie ein Loch im Kopf durch den Tod des anderen hineingerissen. Alles steht still, alles in einem scheint entleert. Der Kopf - eine rießengroße leere Halle verlorener Zeiten.
Bedenken. Klug werden. Wir sterben müssen.
Nein, nein! Ein Mensch, angewachsen an unserem Herz, einer, der mit uns seine Zeiten teilte, seine Gedanke, seine Lächeln, seine Schwächen, der ist gestorben, tot, liegt leblos da, kein Atem mehr, kein Herzschlag mehr, kein Auf und Ab im Rhythmus alt gewordener Zeit.
Bedenken. Klug werden. Wir? Wir sterben mit diesem einen Tod. Unweigerlich. Und selbst wenn der Tod Erlösung bedeutet, und nicht grausam kommt. Er als Lehrmeister? Als Ort zum Klugwerden? Nein, wir sind hineingeworfen, konfrontiert, beschwert vom Tod. Und doch schimmert wie ein fahles Licht. Da ist etwas, was uns über uns hinaus stottern, atmen, fühlen, tasten, leben, sehen lässt.

Sand zerrinnt in der Hand
Ein Engel aus Stein, an irgendeinem größeren Bauwerk angebracht. Er hält steif eine Sanduhr in der rechten Hand, fast vorsichtig und zart, nur mit zwei Fingern. Seine andere gerade leer gewordene Hand sagt, ich habe die Sanduhr gedreht, die Zeit läuft ab.
Von unserem ersten Atemzug an, dem ersten Wort, das zu uns gesprochen, dem ersten Sonnenschein und Regentropfen an, läuft unsere Lebenszeit unentrinnbar ab, werden und vergehen wir, sind wir eingezeichnet in die kreatürliche Vergänglichkeit von allem. Eine Vergänglichkeit, die wir sehen können mit unserem Blick nach draußen und unserem Blick auf uns selbst und auf die, die wir von Herzen lieben.
Falten, Wehwehchen sind nur kleine, noch freundliche Boten dieser Vergänglichkeit. Schmerz, Verlust, Abschiede sind bittere Weggenossen. Alles vergeht, nichts bleibt für ewig. Wir müssen sterben, die Zeit läuft, der Sand rinnt, dem Engel durch das dünne Glas.
Wir spüren und wir kämpfen dagegen an, mit einer ganzen Horde von Wissenschaftlern, Medizinern, guten Gebeten, Hoffnungsschimmern. Wir kämpfen an gegen den langsamen Tod am Krankenbett, gegen den plötzlichen und gegen die Ohnmacht. Wir wollen nicht vergehen, nicht jetzt.
Nicht die, die wir lieben, die sollen, bitte, bitte, bleiben – und sterben. Wie wir.
Einwilligen?

An der Grenze
Der Engel hat seine Sanduhr in der Hand, und wir wollen ihm sagen, komm dreh sie, dreh sie noch einmal und wieder und wieder, die Zeit, das Leben mag nicht vergehen. Und der Engel hält diese Sanduhr in der Hand, stumm und steif.
In der Hand die Lebenszeit, jenes Häufchen an Jahren, Stunden und Minuten. Diese daher gelebten Abschnitte, diese wunderbaren Augenblicke, in denen wir fühlen, dass es Ewigkeit und Glück geben muss; muss!
All unsere Zeit in Händen, in unseren Händen, von uns gefüllt und verschwendet, in anderer Hände, geliebt und verloren, in gemeinsame Händen, jene die wir so oft berührten, die sich um unsere schlossen, beiläufig genommen, bewusst fest zärtlich umschlossen. Alles in einer Hand? Sie muss groß genug sein! Sorgfältig und vorsichtig aufbewahrt, angesehen, dass nichts verrinnt und verloren geht von uns.
Klug werden? Am Tod? Wie nur? Warum nur? Der Tod macht uns stumm, wütend, erschlagen, händeringend, traurig. Aber klug? Die Schule macht klug, sagt man. Ein Buch macht klug. Aus Erfahrung wird man klug, manchmal. Das Leben macht einen irgendwann klug, vielleicht. Aber der Tod?
Der Tod bringt uns an die Grenze, an die eigene und an die, die ans Leben grenzt. Der Tod drängt uns eine Erfahrung auf, mutet uns etwas zu, was wir nie und nimmer haben sehen, erfahren, erleben wollen. Und doch müssen wir an diese Grenze gehen, wankenden Schrittes, tränengetrübt, scheinbar sicher, weil dort die sind, die der Tod über diese Grenze nimmt. Wer will seine Liebe ein letztes Mal berühren? Wer will schwere Erde auf kleine Urne werfen? Wer will gegenüber einem Sarg sitzen, in dem der liegt, den man so oft ansah und in Gedanken und mit Armen umschloss? Niemand, aber der Tod der ringt diese Erfahrungen ab, und es scheint, dass er aus einem Land jenseits der Grenze kommt, einem Land, das wir nicht kennen, nicht verstehen, wo wir nie wirklich klug daraus werden. Nur manchmal, manchmal später merken wir, dieser Grenze wohnt auch ein Geheimnis inne.
Anbringen!
Da sitzt der Engel
Jesus ist im Tod nicht klug geworden. Er hat sterben müssen. Wie wir. Er ist diesen Weg gegangen, gegangen worden, ganz Mensch wie wir. In jedem Tod begegnen wir seinem Tod. Wir werden nicht klüger, wir werden ein Stück mehr wie ER. Manchmal wissen wir das gar nicht. Wie ER:
Ein Mensch geworfen mitten in die Welt, ärmlich im Stall, ringend um Mensch, dem Tod begegnend, ausgesetzt, fragend, still einwilligend. Voller auch stummen Glanzes. Gottes Kind. Der Bestimmung in aller Tragik und kargen Schönheit so nah.
Der Engel mit der Sanduhr in der Hand, der sitzt auf einem Mauervorsprung. Er hat die Flügel leicht aufgeschlagen, mag er fliegen, ist er gekommen? Sein Steingesicht von der Zeit gezeichnet, ausgelaugt, sein Blick erzählt von vielem, seine Augen von Trauer. Er sitzt da, als hätte er die Sanduhr angehalten, als hätte er alle Zeit der Welt.
Als hätte ER alle Zeit der Welt. Nur dies. Er hat sie. Das ist viel wert. Gott hat alle Zeit der Welt und würde sie auch schenken, geben können, aus seinen Händen euch. Müde mag der Engel sein, so viele Jahre für so viele Traurige Gottes Bote. So oft gesandt. So oft die eine Botschaft an die geschenkt, die furchtsam, traurig, Tod gelähmt so sitzen wie er, ihr, wie wir: Die Zeit verrinnend in den Händen. Wie zu Maria, wie zu den Hirten, von unglaublicher Geburt im Dunkeln gekündet; wie zu denen, die am Grabe stehen, zu uns beharrlich sanft wiederholend: „Fürchtet euch nicht. Er ist nicht da. Er ist auferstanden“. Euer Mensch. Amen.

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