Freitag, 30. November 2018

In mein Herz


Predigt am 1. Advent (2.12.2018)



Matthäus 21, 1-11

1 Als sie nun in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus 2 und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt. Und sogleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir! 3 Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen. 4 Das geschah aber, auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht (Sacharja 9,9): 5 »Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.« 6 Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, 7 und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf. 8 Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. 9 Das Volk aber, das ihm voranging und nachfolgte, schrie und sprach: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe! 10 Und als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und sprach: Wer ist der? 11 Das Volk aber sprach: Das ist der Prophet Jesus aus Nazareth in Galiläa.



Feinfühlig tasten

Der Einzug Jesu beginnt in seinem Kopf. Vielleicht viele Kilometer, Stunden, Tage schon zuvor. Einziehen tun Menschen in Wohnungen, meistens gut geplant, mit Hilfe und für längere Zeit. Der Einzug macht für Menschen einen bestimmten Ort zu ihrem Zuhause. Sonst ziehen Menschen kaum noch ein, vielleicht Herrscher, Würdenträger, besondere Menschen in besonderen Situationen. In vielen Fällen betreten Menschen anders einen Raum, eine Stadt, einen Zeitpunkt, eine Situation.

Jesu Einzug beginnt in seinem Kopf, mit einem Bild, mit einer Vision. Er beginnt mit Nähe, damit, dass Jesus nahe an den Ort gekommen ist, wo sich alles entscheidet. Er beginnt mit Sätzen zu seinen Jüngern, mit dem Holen des Esels und seines Füllens, mit dem Aufsteigen und dort sitzen. Jesu Einzug in das Herz von Menschen beginnt in Jesu Kopf, in seinem Denken, Wollen, Planen. Der Einzug in unsere Herzen beginnt mit Nähe, mit Nähe zu unseren Herzen, zum für uns entscheidenden Ort und er beginnt tastend, vorsichtig, feinfühlig; denn es ist großes, in Menschenherzen einzuziehen. Jesus weiß das.

Er will nicht brachial, plötzlich, unüberlegt, schnell einziehen. Er bereitet das vor, gliedert sich ein in Vorgängiges, in Sätze und Visionen alter Propheten, in Gottes schon lange bestehende Sehnsucht nach menschlichen Herzen. Jesu Einzig beginnt damit, dass er etwas vorausschickt, wie einen kleinen Fühler in Richtung Herz, dass etwas von dort er sich holt, ihm überlassen wird, was ihn dann ins Herz zu tragen vermag, etwas, dessen er bedarf zum Einziehen, was ihm wie ein kleiner Herzensöffner ist, ein Ankerpunkt, damit er, wirklich er, einziehen kann bei uns, wirklich bei uns.



herein

Die Jünger legen ihre Kleider auf den Esel, ihnen folgen viele Kleider, die die Menge auf den Boden vor die Füße des Esels legen, dazu Zweige von Bäumen, dazu für die Ohren laute Jubelrufe. Das Hosianna erschallt. Die Menschen erkennen in Jesus den wieder, auf den sie gehofft haben, es erfüllt sich vor ihren Augen ihr Traum. Mag das passieren, wenn Jesus in Menschenherzen einzieht. Mögen Menschen ihn erkennen, wiedererkennen, in ihm Verheißung, Anbruch eines erfüllten Lebens. Jesus lässt sich als solcher sehen, hören, im Herzen identifizieren. Und doch wird ihn der Weg hinein in die Stadt, hinein nach Jerusalem in kurzer Zeit ans Kreuz und in den Tod führen, aller Jubel wird verhallen und die Frage wird sein, ob Menschen Jesus wirklich verstanden haben, seinen Einzug in ihre Herzen richtig verstehen, nicht missverstehen, sein Einzug gar nicht sein Einzug ist, sondern nur der ewig gleich Einzug der eigenen Gedanken, Wünsche und Phantasien.

Wie kommen denn die Dinge, die Sätze, die Worte, die Pläne, die Wünsche in mich hinein, zu mir? Wie zieht das alles in mich ein? Was nehme ich auf und was nicht? Wie durchlässig bin ich, wie abgehärtet, dass nichts an mich und in mich dringt? Wie vorsichtig muss ich sein, wie offen? Was kann, was darf, was wird in mich einziehen, durch meine Sinne hindurch in mein Herz? Was ist da eingezogen und wohnt dort? Wer?

Die Stadt Jerusalem ist durch den Einzug Jesu maximal in Erregung versetzt. Es klingt durch die Gassen und Köpfe: Wer ist der? Und eigentlich ist es die Frage: Wer sind wir? Wer bin ich? Wenn Gott in mein Leben einzieht, dann doch als Gott: mich bestimmend, prägend, verwandelnd, mächtig.



ins Herz

Jesu Einzug beginnt damit, dass die Jünger tun, was er sagt, ihm der Esel überlassen wird, es klar ist, wessen Jesus bedarf und dass er es bekommen muss. Jesus ist Herrscher, weil sich in seinem Tun der Sinn erschließt, in ihm erfüllt sich Leben, wird das Versprochene wahr, sehen, spüren, hören Menschen, dass sie bekommen, was sie wirklich bedürfen: das Leben. Dies zu geben, dies zu haben, dies in Liebe zu tragen und zu teilen, ist Jesu Macht.

Jesu zieht deswegen ein in Menschenherzen. Damit sie das Leben bekommen, was sie brauchen. Er zieht vorbereitet ein, mit einem Ankerpunkt im Herzen, feinfühlig tastend, uns Freiheit lassend, ihn hineinzulassen, schon im Einziehen des Schöpfers Liebe zu entdecken, am Werk zu sehen, ein kraftvolle, leidenschaftliche, ohnmächtig-mächtige Liebe.

Sanftmütig zieht er ein in Menschenherzen. Herzen sind selbst zart und gebrechlich. Es braucht Geschick, Geduld und Demut von Jesus. Es braucht den Weg des Herzen vom Einzug, vom ersten überschwänglichen Jubel, vom Irritierenden der Macht, von der Hingabe am Tisch, von der Ernüchterung im Garten Gethsemane, vom Kreuz und Auferstehung, von Advent und Krippe.

Der Einzug Jesu beginnt in seinem Kopf. Im Eintauchen in Gottes Vision vom Friedenskönig der Herzen, er folgt dieser Vision, die in seinem Herzen von Anfang eingezogen ist, und er bringt sie in unsere Herzen, lässt den demütigen Friedenskönig in unsere Herzen einziehen und dort wohnen. Hosianna dem Sohn Davis! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe! Es ist Advent. Amen.






Samstag, 24. November 2018

Träumt mit!


Predigt am Ewigkeitssonntag (25.11.2018)

Jesaja 65, 17-19.23-35 Neuer Himmel und neue Erde
17 Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. 18 Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe. Denn siehe, ich erschaffe Jerusalem zur Wonne und sein Volk zur Freude, 19 und ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk. Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens. 20 Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen, sondern als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt, und wer die hundert Jahre nicht erreicht, gilt als verflucht. 21 Sie werden Häuser bauen und bewohnen, sie werden Weinberge pflanzen und ihre Früchte essen. 22 Sie sollen nicht bauen, was ein anderer bewohne, und nicht pflanzen, was ein anderer esse. Denn die Tage meines Volks werden sein wie die Tage eines Baumes, und ihrer Hände Werk werden meine Auserwählten genießen. 23 Sie sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen; denn sie sind das Geschlecht der Gesegneten des HERRN, und ihre Nachkommen sind bei ihnen. 24 Und es soll geschehen: Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören. 25 Wolf und Lamm sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die Schlange muss Erde fressen. Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der HERR.

Das Alte will uns quälen
Da sind Stimmen, die klagen, jammern, unter Leid und Fragen. Da sind Stimmen, die weinen, traurig klingen, sind. Tausendfach. Stimmen von Menschen. Da sind Kinder, die viel zu früh sterben, in Krankenhäusern, in Kriegen, und Eltern, denen das Leben darüber zerbricht und dunkel bleibt. Da sind Alte, deren Lebensjahre sich nicht erfüllen, die zu jung sterben, denen das Leben abhanden kommt, geraubt wird, die unerfüllt am Ende sind. Wohl millionenfach. Da sind Menschen ohne Wohnung und Wachsen, ohne Früchte und Genuss, kaum mit Brot und Hoffnung, die umsonst arbeiten, für einen Hungerlohn, ohne wirklichen Sinn als Gegenwert. Viel zu viele. Da fressen Wölfe Lämmer, Wölfe in Menschenkleidung die Lämmer ohne Hilfe, da reißen Löwen Rinder, jagen Menschen sich gegenseitig das Leben, die Zukunft ab, treten einander mit Worten und Hassbotschaften, zerstören, führen Krieg, sinnen Böses, richten Schaden an. Massenhaft.

Ein „Ich-mag-dich-trotzdem-Kuss“
Und da ist Gott, ein beseelter, begeisterter, bewegter Gott, einer der schafft und will, will und schafft, gegen die Realität an, gegen all das an und der nicht aufhört zu wollen und zu schaffen, zu träumen und zu sehen und zu sagen: Es soll anderes geschehen. Es braucht einen neuen Himmel, eine neue Erde.
Und da ist Gott, der ein Leben in Fülle will, für Israel, für sein Volk, für die Menschheit, für jeden einzelnen, für uns. Gott, der unbedingt Kinder groß und satt sehen will. Gott, der unbedingt Menschen alt und lebensglücklich sterben sehen will. Gott, der so gerne Menschen sehen will, die pflanzen und ernten, die wohnen und wachsen, die essen und genießen, die arbeiten und Sinn bekommen. Gott, der so gerne die Menschen zusammenleben sieht, erfüllt und friedlich, die unterschiedlichsten Menschen nebeneinander in Frieden sehen will, sein Leben miteinander teilend, einträchtig, die sich gerne gegenseitig leben lassen, denen einen so gut und so schön wie den anderen.
Da ist Gott. Ein Gott, der das alte vergessen will, schaffen will, dass wir es vergessen können, was uns quält, dass wir es nicht mehr zu Herzen nehmen müssen, was unsere Seelen aufscheucht, der unsere Herzen verwandelt, freier machen will.
Und da sind wir, zwischen unseliger Realität und Gottes Vision vom Friedensreich. Da sind wir auserwählt für diese Vision Gottes, gesegnet zu dieser Vision. Wenn Gott sie sieht und will. Warum nicht wir auch? Warum sollten wir seine Vision nicht auch sehen wollen, träumen wollen, schaffen wollen, inmitten der Realität, trotz der Realität. Seine Vision muss doch unsere sein und werden, wir müssten von ihr so wie er beseelt, begeistert, bewegt sein. Wir sind dazu geschaffen.

Du, zuvorkommender Gott
Alles entspringt diesem Gott, diesem zuvorkommenden Gott. Ehe Menschen rufen, antwortet er schon. Während sie noch reden, hört er schon. Gott kommt Menschen wunderbar zuvor. Menschen suchen, haben Lebenshunger, versuchen, Leben zu leben, sehnen sich und Gott sieht das, versteht da, ist selbst von Anfang und sogar schon davor, bevor wir überhaupt denken, planen, sprechen, tun, von uns bewegt, von uns beseelt, und ist Antwort auf all unsere wichtigen Fragen, ist Wort, mit dem wir sprechen, Gedanken, den wir denken, Atem, den wir atmen, Frieden, den wir brauchen.
So zuvorkommend vermag Gott die Welt zu verwandeln, Frieden wirklich zu schaffen, Menschen-Wolf neben Menschen-Lamm, Menschen-Löwe neben Menschen-Rind zu stellen. Aller Hunger nach Leben, nach Anerkennung, nach Macht, nach nur sich ist Gottes zuvorkommendem Leben gestillt, befriedet, angekommen, erfüllt. Und die Menschen? Sie mögen rufen, reden, sie mögen sich bei all dem in Gottes Horizont, in seinen weit aufgespannten Friedenshorizont hineinstellen, dort ihr Leben hineinrufen, hineinreden, hineinleben.

Hoher Lobgesang
Dann mag eine ganz bestimmte Freude werden und da sein, bleiben, eine Freude Gottes, eine Freude seiner Menschen, unsere Freude. Ein tief gehende Freude, eine Freude, die noch vom Alten Quälenden weiß, von der schrecklich unversöhnten Realität, von jenen weinenden und klagenden Stimmen. Eine Freude aber, bei der dies alles nicht mehr nur im Herzen wohnt, die alles dort trägt, aber als stumm gewordener Schmerz, ein Schmerz, neben dem Gott ist, da ist im Herzen, der dort will und schafft. Unbedingt.
Eine fast selbst stille, aber tief lebendige Freude, die nicht das Dunkle ausspart, aber sicher auch und mehr die Hoffnung auf Neuwerden, auf den Sieg Christi über den Tod in sich trägt, die gestimmt ist von jenem hohen Lobgesang der von Gott geliebten Kinder, die wir sind. Eine Freude, wie aus der harten Realität heraus geboren, von Gott befreit, von ihm erfüllt, mit langen Atem und der eigentümlichen Kraft, die die haben, die selbst Gottes Vision vom Leben sind. So wie wir. Wir sind, schon immer, neuer Himmel und neue Erde. Amen.

Freitag, 16. November 2018

Da reute es Gott


Predigt am Buß- und Bettag 2018 (21. November 2018)


Ich bedaure nichts

Das singt Edith Piaff auf Französisch und man mag es ihr glauben. Es mag auch der Sohn des Vaters aus der Geschichte des verlorenen Sohnes denken, als er aufbricht. Und wie mag das in unserem Leben sein? Bereuen wir auch nichts? Zumindest die wesentlichen Dinge und Schritte und Taten im Leben? Wenn wir unser Leben so entlang gehen am heutigen Buß- und Bettag? Bedauern wir nichts? Wo beginnt die Reue?



Reue beginnt

Ich glaube, die Reue ist es, die mit uns beginnt. Sind wir davon überzeugt, dass wir richtig und gut gehandelt haben, solange empfinden wir keine Reue. Brauchen wir auch nicht. Geht auch nicht. Aber in dem Moment, wo wir die Folgen unserer Taten oder unseres Lassens anschauen und sie beginnen zu bedauern, ist das schon die Reue. Hat uns etwas berührt, angestoßen, die Augen ein wenig, aber anhaltend geöffnet.

Für den verlorenen Sohn beginnt die Reue mit ihm in dem Satz bzw. in seinem Gedanken: „Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.“

Die Reue beginnt mit dem verlorenen Sohn, in dem sie ihm seine erbärmliche Lage klar vor Augen führt. Dort beginnen für den verlorenen Sohn die Reue und der Weg zurück, die Umkehr. Vielleicht beginnt für uns auch dort die Reue mit uns: Indem sie uns die erbärmliche Lage vor Augen führt, eine Lage, vor der wir die Augen nicht verschließen können, die wir auch nicht mehr verdrängen oder umdeuten können, die uns ganz klar macht: Das Erbärmliche, das Schlimme hängt mit dir und deinem Tun zusammen, du hast es verursacht, du bist schuld daran.



Zerknirscht

Wenn dann darüber Trauer einsetzt, Bedauern, das Gefühl, das darf eigentlich nicht sein, so ist nicht Leben. Wenn dann man über die erbärmliche Lage wie innerlich betrübt, zerknirscht ist, so dass man eigentlich wieder diese Lage rückgängig machen möchte, ja ungeschehen, dann ist die Reue mit einem schon weiter gegangen, dann bereut man. Da ist man schon in dem Gefühl oder in der Erkenntnis über das eigene Tun, das ein Fehler war, das Sünde war, das nicht dem Leben und der Liebe gedient hat.

Dann hat man in seinem Kopf vielleicht auch schon das Gefühl, den Gedanken, umzukehren, sich aufzumachen, so wie der verlorene Sohn, Reue zu zeigen, zu bekunden, sich zu entschuldigen und soweit es geht, auch dafür grade zu stehen, was war, und forthin, nicht mehr zu sündigen, es nicht mehr mit sich soweit kommen zu lassen, dass man überhaupt Reue empfinden muss über etwas.

Dann kann man darauf hoffen, dass andere und irgendwie auch das Leben einem verzeiht, die Last von Schuld nimmt und man auch mit erbärmlichen Lagen, die nicht rückgängig gemacht werden können, eben lernt, lebt.



Es reut Gott

Vielleicht war es einmal der Gedanke Gottes, über all das Übel und Unheil der Menschen den Stab zu brechen und all das Unrecht sich austoben zu lassen und zu Verderben, Vergeltung und Strafe werden zu lassen. Man kann ihm kaum diesen Gedanken verübeln. Wie könnte man auch.

Aber dennoch spricht unsere Bibel von der Reue Gottes. Seiner Reue über das gedachte, geplante und auch manchmal indirekt geschaffene Übel. Der Grund seiner Reue liegt in seiner Güte, von der er sich immer wieder überreden lässt, an seinen Menschen, an seiner Schöpfung und an uns trotzallem festzuhalten.

Der Grund seiner Reue ist, dass er das Leben liebt und dass er keine „erbärmliche Lage“ für niemanden und nichts will und dass er selbst immer wieder umkehrt, wenn ihn sein Zorn droht zu packen und selbst Anteil zu haben am Übel. Dann kehrt Gott zu sich selbst um, zu seiner ewigen und treuen Liebe und es reut ihn mancher dunkler Gedanke.

Anders als wir braucht er sich aber nicht zu bessern, geschweige denn müsste er sich entschuldigen. Denn er ist der barmherzige Vater, der alle verlorenen Söhne und Töchter in seine Arme schließt und ihnen allen Lebenswandel verzeiht und mit ihnen ein Lebensfest feiern möchte. Wie dunkel die Gedanken des barmherzigen Vaters gewesen sein mögen, wissen wir nicht. Am Ende und im richtigen Augenblick bleibt seiner Liebe treu und liebt.

Dass Gott seine dunklen Gedanken über uns reuen, ist erschreckend und erhebend zugleich. Wir Menschen können eigentlich nur ihm diese Gedanken und seine Reue lassen, müssen es und müssen darauf hoffen und darum bitten, dass er immer unser erbarmender, liebender und gnädiger Gott ist und bleibt.

Donnerstag, 15. November 2018

Atem holen: Auf-Sehen


Predigt zu „Atem holen“ am 15.11.18

Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit [die Zeit der Gnade], siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“

(Wochenspruch. 2. Korinther 6,2)



Aufsehen

„Siehe“ heißt sehen, schauen, die Augen öffnen und benutzen. Sehen tun Menschen fast den ganzen Tag, eigentlich fast dauernd. Wir sehen bewusst und unbewusst, genauer, scharf und beiläufig, Menschen, Dinge, Ereignisse, Buchstaben, bewegte Menschen im Fernsehen, und: wir sehen uns selbst, unsere Körperteile, uns ganz im Spiegel, und selbst, wenn wir schlafen, scheinen wir so was wie innere Augen zu haben, sehen Träume und denken, fühlen unser Leben irgendwie weiter.

„Siehe“ ist ein kleines Wörtchen, es ist ein Aufmerksamkeitswort. Es will hinweisen, es will aufmerksam machen, hinzuschauen, auf etwas, auf etwas Bestimmtes. „Siehe“ richtet unseren Blick aus. Wie oft sind wir eher abgelenkt und wenig aufmerksam, brauchen wir ja auch nicht sein, weil alles läuft, wie es läuft, und dann doch ein kleines „Siehe“, von mir, von anderen, von etwas gesetzt, gesagt, in den Kopf gebracht, und dann aufmerken, aufsehen, sich darauf konzentrieren.

„Siehe“ ist eigentlich eine Körperbewegung, mit den Pupillen, den Augenlidern, dem Kopf, und eigentlich mit dem ganzen Körper, vielleicht auch mit der Seele. Auf-Sehen. Auf-Richten. Inne-Halten. Atem-Holen. Erwarten.



Jetzt sein

„Siehe, jetzt …“. Jetzt ist ein Zeitwort, eine Zeitangabe. Es steht zwischen Vergangenheit und Zukunft, meint Gegenwart. Jetzt reiht sich ein in Worte wie nachher, später, vorher, früher, einst und nie. Nie und jetzt sind vielleicht Gegensätze, können alles meinen und alles hervorrufen, je nachdem, was jetzt ist und kommt, was nie ist und nie sein wird.

Gibt das Jetzt? Sobald wir Jetzt denken, sagen, fühlen, ist schon das nächste Jetzt da und das Jetzt eben vorbei, verflüchtet sich das Jetzt zu einem kleinen Punkt, zu einem Mini-Punkt, der gerade war und vergangen ist, der gleich sein wird und schon fast ist. Gibt es Gegenwart überhaupt? Kann ich im Jetzt leben? Kann ich jetzt sein? Ja, denken wir, aber doch irgendwie nein.

Jetzt kann ganz verschiedene gegenwärtige Augenblicke sein, wunderschön, gnadenlos, herrlich, glücklich, schmerzvoll. Menschen wollen Jetzt festhalten, nie mehr loslassen. Menschen wollen Jetzt nicht, nicht erleben müssen, weghaben. Menschen erleben, erleiden, erfreuen Jetzt.



Versöhnt leben

„Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils.“ Jetzt kommt und ist das, was ich erwarte, was kommen soll, was ich erhoffe, ersehne, was mir versprochen, zugesagt ist. Jetzt kommt das entscheidende Jetzt. Jetzt erfüllt sich etwas für mich, die Zeit erfüllt sich. Endlich! Aber womit? Womit erfüllt sich jetzt die Zeit, meine Zeit? Was ist das Ersehnte? Was war und ist versprochen? Was trägt, hat, das Jetzt in sich?

Paulus, die Verse aus der Bibel sehen das Jetzt etwas, das Entscheidende in sich tragen. Paulus, die Verse aus der Bibel füllen das Jetzt, bestimmen es, sagen, was es ist, sagen es uns zu als das, was unsere Sehnsucht stillt, unsere Hoffnung erfüllt, unser bedürftiges Leben nährt. Es ist an uns, aufzusehen, dem „Siehe“ zu folgen, das Jetzt zu unserem werden zu lassen. Es wird uns geschenkt, umsonst, unverdient, einfach so. Es ist für uns alles, Zugedachtes, Geschenk, Gnade, Heil, Rettung, Wohlergehen, Glück, Heil. Es ist für Paulus Versöhnung.

Versöhnung ist Jetzt. Jetzt ist Versöhnung. Mit sich, mit anderen, mit seinem Leben, mit allem, was widerstrebt, schief geht, weh tun, falsch läuft, trennt, verflucht, wegzieht, lieblos ist, Seele quält. Versöhnung durch Gott, der all dieses umfängt in unendlicher Liebe, der all dies auf sich nimmt, trägt, zu seinem Ort macht, selbst am Kreuz zum Verfluchten, zum Ungeliebten, zur Liebesqual wird, der uns all das verzeiht, uns bei sich entschuldigt, an uns festhält, treu bleibt. Sich mit uns versöhnt.

Das ist Jetzt. Immer wieder jetzt. Das Jetzt Gottes und seiner liebenden, versöhnenden Gegenwart. Ein Jetzt der Versöhnung, ein Moment, an dem diese uns passiert, eine Stunde, ein Tag, eine Woche, ein Leben, in dem wir aus diesem Jetzt der Versöhnung leben können, dürfen, aus dem wir unsere Zeit, vergangene, zukünftige schon Gott bestimmt schöpfen, aufgerichtet werden und aufsehen. Amen.

Freitag, 9. November 2018

Gib Frieden, Herr, gib Frieden


Predigt am Drittletzten Sonntag (11.11.2018), 
hundert Jahre nach Beendigung des 1. Weltkrieges

1. Gib Frieden, Herr, gib Frieden,
die Welt nimmt schlimmen Lauf.
Recht wird durch Macht entschieden,
wer lügt, liegt obenauf.
Das Unrecht geht im Schwange,
wer stark ist, der gewinnt.
Wir rufen: Herr, wie lange?
Hilf uns, die friedlos sind.

Bitte in eigener Friedlosigkeit
Dieses Lied ist eine eindringliche Bitte. Es hat die Melodie von „Befiehl du deine Wege“ und sieht Wege in Krieg und Unfrieden und bittet, ja fleht um Wege heraus aus Krieg, Leid und Tod. Viermal wird zu Beginn der Strophen die Bitte wiederholt, zweimal in der Form, dass ausdrücklich gesagt wird, dass die Singenden bitten, und die Bitte meint die Bitte zu geben, zu helfen, nicht allein zu lassen, Mut zu geben, Zeichen zu machen. Diese Bitten sind nicht ins Leere gesprochen, so kriegsdunkel es auch sein mag. Gott ist angesprochen, Gott ist gebeten, Gott ist das Du dieser Bitten, dieses Liedes.
Ihren tiefsten, fast leisen Ausdruck finden diese Bitten an Gott in jenem flehenden, uns so sehr bekannten, nahen und doch fernen: „Herr, wie lange?“ Wie lange noch. Wie lange noch Krieg, Schießen, Kugeln, Strategien, Gefechte, Hunger, Wunden, Tod. Wie lange noch. Die Bitte nach Ende, nach Ende von Krieg ist vor genau 100 Jahren mit dem Waffenstillstand des ersten Weltkrieges erhört worden, zumindest war der Krieg und das Morden zu Ende.
Die Bitte nach Frieden ist das unsere Bitte? Können wir sie so aussprechen, wie die Menschen, die im Krieg sind, die Krieg erlebt haben. Gibt es die Gnade der späten Geburt und ist diese nicht trügerisch. Wir haben vielleicht mal gebittet um Ende eines Krieges, wir bitten vielleicht um Ende des Krieges in anderen Ländern, sehen das heutige Leid in Kriegsregionen und wohnen doch im Frieden. Und so singt uns dieses Lied die unheilvolle Dynamik des Krieges wie ins scheinbar friedvolle Leben hinein, als wollte man uns nicht entlassen aus einer Pflicht. Es singt vom schlimmen Lauf, von dem, was im Schwange ist, vom quälenden Warten und vom Wachsen der Furcht, vom Grollen der Horizonte, von Macht, Lüge, Unrecht und Stärke, die siegen, vom Leid, von uns.
Als sei kein Krieg zeitlich und räumlich weit genug weg, überrascht, vielleicht ertappt uns die erste Strophe am Ende. Wohin mögen wir unsere Blicke sonst im Blick auf Kriege wenden, auf die Täter, auf die Opfer, als Zuschauer. Das Lied wendet unseren Blick aber auf uns selbst: „Hilf uns, die friedlos sind.“ Wann sind wir das: fried-los?

2. Gib Frieden, Herr, wir bitten!
Die Erde wartet sehr.
Es wird so viel gelitten,
die Furcht wächst mehr und mehr.
Die Horizonte grollen,
der Glaube spinnt sich ein.
Hilf, wenn wir weichen wollen,
und lass uns nicht allein.

Wie verlernt man Krieg?
Das Lied entlässt uns nicht. Es spitzt sogar zu. Es richtet sich auf den Glauben und seine Rolle im Krieg. Auf den eigenen Glauben, auf meinen. Das ist ernüchternd selbstkritisch. Vor aller Friedensbemühung kommt der Blick auf den eignen Glauben und darauf, was der Glaube im Krieg macht, was mit ihm im Krieg passiert. Auch wenn uns Krieg vielleicht ferner ist, so kennen wir Streit, Konflikte, Kämpfe und das Lied fragt uns, was macht der Glaube damit, und die Antwort des Liedes ist ehrlich, ja fast radikal ehrlich:
Der Glaube spinnt sich ein. Der Dynamik des Krieges, die Welt nimmt schlimmen Lauf, folgt eine Bewegung des Glaubens. Glaube zieht sich zurück, auf sich, er verkriecht sind, er verkapselt sich, verhakt sich in sich selbst, beginnt zu spinnen. Statt: sich zu entspinnen, zu entfalten, auszubreiten, stark zu machen. Und er weicht, er geht zu Seite, im kleinen, aber spürbar, er weicht zurück, statt zu widerstehen, sich einzusetzen, dazwischen zu gehen.
Mir scheint es ein ehrlicher, weniger heldenhafter Blick auf den Glauben im Krieg, im Streit zu sein. Und es ist vielleicht ein Blick, der doch etwas eröffnet, wenn man ihn selber wahrnimmt, wenn man merkt, dass der Glaube die falsche Bewegung macht, sich einspinnt, weicht, statt in eine Friedensbewegung zu kommen. Vielleicht eröffnet er doch den Blick darauf, wie man Krieg beginnt zu verlernen. So wie es Micha ersehnt hat. Wenn der Glaube versponnen in sich mitten in sich doch beginnt zu bitten, bitten um eigene Hilfe, nicht allein zu bleiben.

3. Gib Frieden, Herr, wir bitten!
Du selbst bist, was uns fehlt.
Du hast für uns gelitten,
hast unsern Streit erwählt,
damit wir leben könnten,
in Ängsten und doch frei,
und jedem Freude gönnten,
wie Feind er uns auch sei.

Mangel an Gott
Mitten im Glauben kann eigentlich nur Gott sein. So spitzt unser Lied sich noch mal zu, noch radikaler und grundsätzlicher, aber vielleicht auch herausführend. Es kommt direkt auf Gott zu sprechen, zu singen, es spricht Gott direkt an und stellt wie in sich fest: „Du selbst bist, was uns fehlt!“ Es stellt die Frage entschieden, wo Gott denn sei im Krieg, im kriegerisch versponnen Glauben. Wo ist Gott im Krieg? Auf Koppelschlössern? Im Segen der Waffen? Im Sieg an der Front? Bei den zahllosen Opfern? Bei Menschen in Schützengräbern? Bei den Witwen und den weinenden Müttern? Nirgends in all dem? Überhaupt nirgends? Abwesend? Es gibt viele Antwortversuche. Theoretische und mitten im Daseinskampf notgeborene. Vielleicht gibt es keine.
Unser Lied versucht eine Antwort. Eine negative. Gott fehlt. Gott fehlt im Krieg. Krieg ist Mangel an Gott und mit diesem Mangel Mangel an noch viel mehr. Und diesem Mangel setzt das Lied etwas entgegen, eine ganz und gar merkwürdige Fülle. Jesus Christus. Er hat für uns gelitten, er hat für uns den Streit gewählt. Und wenn Jesus Christus den Streit gewählt hat, ihn ausgefochten hat, erlitten hat, dann müssten wir im Grunde nicht mehr streiten, nicht mehr streiten müssen.
Und das wäre der Ausgang aus jedem Krieg vielleicht. Wer nicht mehr streiten muss, streiten mit anderen, um sich, sein Leben, seinen Wert, seinen Erhalt, weil dieser Streit von Christus schon längst geführt, erlitten und gewonnen ist, der braucht keinen Krieg mehr, der wird frei in Ängsten von deren Macht, der kann andere neben sich sein lassen, der kann selbst Feinde Freude gönnen, allen anderen das Leben gönnen. Krieg wäre nicht mehr nötig, könnte verlernt werden.

4. Gib Frieden, Herr, gib Frieden:
Denn trotzig und verzagt
hat sich das Herz geschieden
von dem, was Liebe sagt!
Gib Mut zum Händereichen,
zur Rede, die nicht lügt,
und mach aus uns ein Zeichen
dafür, dass Friede siegt.

Der Liebe gehören
Und als sei das nicht genug vollendet sich unser Lied, kommt es auf das Wichtigste und Elementarste zu sprechen, auf die Liebe. Und auf das menschliche Herz. Ein Herz im Krieg, im Streit, im Konflikt ist ein trotzig verzagtes Herz. Es hat vergessen, welche Weite in ihm wohnt. Es hat sich zusammengezogen im Schmerz zum Schmerz. Und es ist ein Herz, das sich von sich selbst abgekoppelt hat, das von der Liebe geschieden ist. Ein merkwürdiges Bild: Das Herz, in dem die Liebe wohnt, hat sich von dieser geschieden. Und Krieg ist eine Ansammlung von Herzen, die sich von der Liebe geschieden haben, geschieden wurden. Gewaltsam.
Und dabei spricht die Liebe, sagt sie etwas, hat sie etwas zu sagen. Würden alle auf sie hören. Aber der Krieg, das Davor ist laut, unglaublich viele Töne, Stimmen, Botschaften. Und was nicht alles, hören Menschen im Krieg, Propaganda, unheilvolle Heilsbotschaften, Klischees, Lügen, Kanonenlärm, Todesschreie, eine unheimlich bedrohliche Stille, volle, abgestumpfte, todgehörte Ohren.
Unser Lied glaubt aber daran, dass die Liebe dennoch spricht, sagt. Und daran, dass Menschen im Krieg sie hören können, dass sie bitten können, dass wir bitten können. Und das ganze Lied wird zum Ruf, zur Bitte der Liebe. Der Liebe, die zu verwandeln mag. Jene Verwandlung von der Micha spricht, wenn Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden, von der Jesus beseelt ist, wenn er die rechte Wange dem Schläger hinhält, wenn unser Lied um Mut bittet, einander die Hände zu reichen und zueinander Worte der Wahrheit zu reden.
Und alle Bitten münden ein in unsere eigene Verwandlung und die Bitte darum. Kein Krieg ist wieder rückgängig zu machen, es gibt keine „Rückverwandlung“. Es gibt die Zeit nach dem Krieg, hoffentlich, und die Verwandlung der Menschen zu Friedensmenschen, damit Krieg verlernt werde. Gott möge uns aus den Fried-Losen der ersten Strophe Fried-Volle machen, aus den Eingesponnen der zweiten Strophe solche, die Frieden entspinnen und entfalten, bringen. Wir sollen nicht nur Friedenszeichen sein. Wir sollen gegen jede Kriegsdynamik, gegen jenen schlimmen Lauf der Welt, selbst Friedensdynamik entwickeln und werden. Wir sollen Zeichen sein, dass der Friede siegt. Das soll an uns ablesbar, sichtbar, spürbar sein. In unseren persönlichen Streit und Konflikten - und auch in unserem Engagement gegen Kriege und für Frieden weiter entfernt.
Zum Zeichen, dass Friede werde, werden wir durch eindringliches Bitten, durch gemeinsames Singen, wie Singen dieses Liedes. Und wir werden es durch die Liebe Gottes, von der uns niemand scheiden kann: Christus hat den Streit in unseren Herzen für immer beendet und die Fülle der Liebe Gottes in sie eingegossen. Darum lohnt es sich zu bitten: Gib uns Frieden. Dona nobis pacem ….