Sonntag, 29. Dezember 2013

Aus der Balance



Predigt an Neujahr 2014 (1.1.14) zur Jahreslosung: 
„Gott nahe zu sein ist mein Glück“ (Psalm 73, 28)

Nah und fern
Scheinbar ist alles schön ausbalanciert. Doch manchmal kommt etwas so nahe, dass Tränen uns über die Wangen fließen und tropfen, und ab und zu wünschen wir uns jemanden auf den Mond, soweit weg und so fern, wie es nicht geht. Vieles und viele können wir uns auf Distanz halten, es nicht an uns ranlassen, und wie ist es, wenn wir uns fast verlieren im anderen und Grenzen zerfließen.
Vielleicht ist alles eine Frage von Nähe und Ferne, von Entfernung, und unser Leben hat die Aufgabe, zwischen beiden einen Weg zu finden, vom Entscheidenden sich fernzuhalten und zum Entscheidenden die Nähe zu suchen; das Böse zu meiden, dem Unglück zu fliehen, Zuneigung zu suchen, an Herzenswärme sich zu nähren; sich den richtigen Menschen anzunähern, sich bekannt zu machen, sich zu befreunden, Nähe zu zeigen und Nähe zu wünschen, Grenzen nach und nach zu verschieben, um eine letzte zu respektieren; und das Ferne fern zu lassen, als das, was zu Recht aussteht, nicht da ist, vielleicht auch nie da sein wird. Und beides bedeutet Sehnsucht, nach Nähe und nach Ferne, nach Geborgenheit und Fremde, nach berührt und verwirrt werden, und im Moment der Liebe fällt beides in einen Augenblick, wenn Intimität den anderen als mein Fremdes und Geschenktes erlebt.
Wenn Gottes große Liebe wir und Jesus sind, wir immer nach seinem Weihnachten leben, dann ist in Jesus beides im Grunde beschlossen: Nähe und Ferne.

Ein naher Gott
Mit Jesus, der Geburt des Gottessohnes auf Erden, hat Gott seine Nähe beschlossen. Er will ein naher, ein sich nähernder Gott sein. Das ist er nie nur, auch ist er Allmacht, Zorn, Eifer, Heiligkeit, Größe, auch ein ferner Gott, aber er gibt Nähe den Vorzug, der Verringerung der Distanz, denn: Liebe zieht an, magnetisch, kraftvoll, denn Liebe will unbedingt zum anderen, denn Gott sucht der Menschen Nähe.
Und Gott stellt Nähe zu sich her. Das ist ganz und gar seine Sache. Und dass und wo dies geschieht, da ist es Glück zu nennen, denn es ist ein geschenkter, gewährter, ein wunderbarer Moment. Und Gott sucht ja immer die Nähe und so ist er immer nahe- und zuvorkommend. Auch wenn wir Erdenkinder die Nähe nicht oder anders spüren, oder wenn wir verschiedene Zeiten dafür kennen oder wenn wir dafür ganz verschiedene Bezeichnungen haben oder wenn wir daran zweifeln, fast verzweifeln. Auch wenn wir ihn fern fühlen, weg, weit weg, abwesend, auch dann bleibt es dabei: Er ist ein  naher Gott. Das macht die gespürte Ferne nur bitterer.
Und selbst Jesus, die Nähe der Liebe Gottes, zweifelte am Ende und spürte Gott weit entfernt und sich verlassen, er ihn, er seinen Gott, den er auf wunderbare Weise den Menschen so nahe brachte, dass Gott da wurde und war und blieb. In Jesu Worten, Taten, Liebeswundern kam Gott den Menschen so nahe, dass er in ihr Leben kam und sie ihn gegenwärtig spürten, umfangen wurden von der Macht einer tiefen Liebe.

Das Glück der Nähe
Es gibt wohl mehr als tausend Wege zum Glück, so viele wie zum Unglück. Es gibt mehr als tausend Worte für Glück und einer davon heißt „Gott“. In seiner Nähe ist Glück. Seine Nähe bedeutet Glück. Es ist wie in den Armen dessen, den man liebt und der einen liebt, in dessen Armen ist das Glück, liegt das Glück, ist man tief beseelt, erfüllt, aufgewühlt und still angerührt, selig, glücklich. Gott ist Ort des Glücks, denn Gott ist Liebe, er ist der, der uns liebt und den wir lieben, manchmal lieben sollen, manchmal es kaum spüren oder darum kämpfen. Aber ein nahender Gott ist der liebende Gott und in der Nähe eines Liebenden, eines liebendes Gottes, da ist Glück, Seligkeit, Erfüllung.
Nie so, als sei damit das Leben gelungen oder perfekt, als gäbe es nicht vorher und nachher Unglück, Schatten, Schmerz, Verzweiflung, Bitterkeit, Fragen, Böses. Vor all dem schützt die Liebe nicht, die Liebe aber schenkt uns Nähe, Intimität, lässt uns teilhaben an dem, der hindurch trägt und Wunden pflegt, der Böses bekämpft und Kraft schenkt, der vor Versuchung warnt und verzeiht, der um das Kostbarstes in uns weiß und ringt.
Jesus war nie glücklich. Das war weder Thema noch Ziel für ihn. Die Nähe Gottes war sein Plan und Weg. Er hatte nach menschlichen Maßstäben wirklich viel Unglück zu erleiden, aber auch manches Glück. Am Ende fiel für ihn beides so in einen Zeitpunkt, dass es ein Wunder bedurfte. Jesus lebte  so aus der Nähe Gottes, dass er sie nicht nur den Menschen brachte, sondern er selbst eine geheimnisvolle Seligkeit empfand, eine Seligkeit derer, durch die Gott hindurch leuchtet.

Nähe suchen
Das kommende Jahr steht noch ganz frisch vor uns. Es ist ein rein menschlicher Zeitenschnitt. Gott hat nur die Ewigkeit und alle Zeit. Zumindest für uns könnte es eine bevorstehende Aufgabe sein, das Glück im kommenden Jahr zu suchen. Es wird uns kaum gelingen. Das Glück war schon immer schwer zu finden. Wir könnten dagegen die Nähe suchen, die Nähe zu Gott suchen, die Nähe, die allein er uns schenkt.
Denn: Liebe lässt sich gerne finden. Auch wenn sie einem geschenkt wird. Und Nähe suchen ist vielleicht urmenschlich. Menschen suchen Nähe und haben fast immer ein gutes Gespür dafür, wo heilsame, guttuende, liebende Nähe zu finden ist. Der Nähe Gottes vertrauen, sich nicht irr machen lassen durch andere Auskünfte über Gott, darauf vertrauen und im Notfall darauf setzen, dass er meine Nähe will, dass er seine Nähe zu mir sucht, findet und schenkt. Darauf hat Jesus still auch im Tode letztlich vertraut.
Und viele, die sich Jesus annäherten und denen Jesus die Nähe Gottes schenkte, begannen letztlich bei sich, begannen in und bei sich nach der Entfernung, nach dem entstanden Abstand zu Gott, zur Liebe zu fragen, zu suchen, und wurden über die Frage hinweg nachdenklich, kamen sich selbst näher, öffneten sich und waren dann bereit für die Nähe Gottes, wurden von seiner Liebe berührt.
Und dann passiert, geschieht: Kurz die Balance verlieren, die zwischen Nähe und Ferne, die Menschen austarieren, für einen Moment: Gottes Unnahbarkeit beruhigend ahnen, allen Abstand zu ihm sehen und aushalten, nur seinen Saum anfassen, den nächst höheren Baum besteigen, zum unter die Räuber gefallenen Menschen sich hin knien, das Glas voll Salböl nehmen, eine unschätzbarer Nähe berühren und selbst berührt werden von ihr, von Gott, seiner Liebe und glücklich werden für jenen einen ewigen Moment. Amen.

Deine Zeit in meinen Händen



Predigt am Altjahresabend 2013 (31.12.2013)

Liedstrophen vor der Predigt
EG 641, 3. Du weißt den Weg ja doch, du weißt die Zeit,
dein Plan ist fertig schon und liegt bereit.
Ich preise dich für deiner Liebe Macht,
ich rühm die Gnade, die mir Heil gebracht.

EG 408, 1. Meinem Gott gehört die Welt,
meinem Gott das Himmelszelt,
ihm gehört der Raum, die Zeit,
sein ist auch die Ewigkeit.

EG 64, 1. Der du die Zeit in Händen hast,
Herr, nimm auch dieses Jahres Last
und wandle sie in Segen.
Nun von dir selbst in Jesus Christ
die Mitte fest gewiesen ist,
führ uns dem Ziel entgegen.

Predigtteil I
Unbestimmte Zeit
Das kommende Jahr liegt noch unbestimmt vor uns. Noch sind die Stunden, Minuten, Tage, die Zeit nicht da, noch sind sie von uns unbetreten, ungelebt. Vieles – so wissen wir – ist absehbar, wird sich fortsetzen. Manches – hoffen oder befürchten wir - wird anders werden. Sicher: Die kommende Zeit wird immer unsere Zeit seien, mit dem was zu uns gehört, und die Zeit anderer; Zeit hier und Zeit auf der Welt, bei anderen Menschen rund um unseren Globus. Eine Unzahl von noch ungegangenen Wegen, von Plänen und Zielen, von Unsicherheiten und möglichen Versicherungen, von Wünschen und Bitten: nach Liebe, nach Segen, nach Heil und Gnade, nach Glück und Gelingen, nach jemanden, der mitgeht, führt, Zeit verwandeln vermag, der sie gibt und in seine Hände nimmt.

In Gottes Hand
Gott steht der Zeit gegenüber. Er hat sie geschaffen, ein Vor und Nach ihm gibt es nicht, Zeit ist ohne ihn nicht denkbar. Gott hat die Welt und deren Zeit geschaffen, und mit beidem alles in der Zeit. Wir leben aus der Vergangenheit in der Gegenwart auf Zukunft hin. Für Gott ist alles ein Augenblick, sein ewiger Moment. Er weiß die Zeit. Ihm gehört die Zeit. Er hat sie in seinen Händen. Gott kennt die Zeit und wie wir sie leben, füllen, verschwenden, totschlagen, schenken, wie wir in ihr lieben, hassen, geboren werden, sterben, wie die Zeit in unseren Händen wird und wir in ihr. Er kennt seine Menschen in der Zeit. Gott gehört die Zeit, wie alles, was er geschaffen hat, ins Leben rief und immer wieder ruft. Die Zeit ist sein Besitz, wie die Erde und die Luft, die Menschen und die Pflanzen. Gott hat die Zeit in seinen Händen. Dort ist sie immer zuerst, und aus diesen Händen gibt er sie.
Er gibt sie uns als Jahr, das bevorsteht, und seines ist. Ein Stück seiner Zeitschöpfung. Er gibt Zeit uns als Momente, um deren Heiligkeit und Tragik er weiß. Er gibt sie uns als Stunden, Minuten, als Monate und Tage, als zu füllende, zu lebende Zeit, die ihm gehört und die wir leben.

EG 432, 1. Gott gab uns Atem, damit wir leben.
Er gab uns Augen, dass wir uns sehn.
Gott hat uns diese Erde gegeben,
dass wir auf ihr die Zeit bestehn.
Gott hat uns diese Erde gegeben,
dass wir auf ihr die Zeit bestehn

EG 659, 1. Die Erde ist des Herrn.
Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben.
Drum sei zum Dienst bereit,
gestundet ist die Zeit, die uns gegeben.

EG 360, 3. Wir wollen leben und uns selbst behaupten.
Doch deine Freiheit setzen wir aufs Spiel.
Nach unserm Willen soll die Welt sich ordnen.
Wir bauen selbstgerecht den Turm der Zeit.

Predigtteil II

Zeit gelebt
Zu uns, zum Leben gehört Zeit, wir leben in der Zeit und wir haben immer gelebte Zeit hinter, mit uns. Wir haben ein gelebtes Jahr fast hinter uns, noch ein paar Stunden noch, dann gehört 2013 der Vergangenheit an und doch werden wir immer mit all dem, was da 2013 war und nicht war, was gut ging und was schlecht lief, was uns Freude machte und was uns schmerzte, Geliebte und Verlorene, dunkle und helle Seelenflecken, auch im Neuen weiterleben, es mitnehmen als unsere gelebte Zeit, wie all die Jahre zuvor.

geschuldete Zeit
In all dem haben wir die  Zeit bestanden, manchmal überstanden. Bestanden, weil leben in der Zeit immer auch Herausforderung ist, uns einiges abverlangt und wir immer auch in und an der Zeit und dem, was in ihr ist, scheitern können. In all dem war uns die Zeit gestundet. Wir haben sie bekommen, wir sind ihr, den Menschen, Gott und uns selbst etwas schuldig in ihr und ihre Erfüllung, das Auslösen dessen, was wir der Zeit schulden, ist immer wie aufgeschoben. Wir merken, wir leben Zeit nicht nur, sondern die Zeit ist geschenkt, geliehen, uns gegeben mit einem bestimmten Anspruch, mit einem bestimmten Auftrag, mit einem Ruf, diese Zeit zu füllen, ja zu erfüllen.
In all dem haben wir auch Türme der Zeit gebaut, die nie hätten gebaut werden sollen, haben Zeit so gelebt, so gefüllt, dass in ihr kein Segen, kein Gelingen, kein erfüllter Auftrag lag. Unerfüllte Zeit, uneingelöste Versprechen, Zeit vertan, Zeit falsch verbracht, am wenigsten durch Müßiggang, als dadurch, dass wir uns dem verweigert haben, der die Zeit aus seinen Händen uns gab, und wir sie nur als unsere nutzten. „Herr, nimm auch dieses Jahres Last“ ist ein realistische Bitte am Ende des Jahres, um gewandelt ins neue treten zu können.

EG 533, 3. Wir sind von Gott umgeben
auch hier in Raum und Zeit
und werden in ihm leben
und sein in Ewigkeit.

EG 225, 2. Wir haben sein Versprechen:
Er nimmt sich für uns Zeit,
wird selbst das Brot uns brechen,
kommt, alles ist bereit.

EG 294, 1. Nun saget Dank und lobt den Herren,
denn groß ist seine Freundlichkeit,
und seine Gnad und Güte währen
von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Du, Gottes Volk, sollst es verkünden:
Groß ist des Herrn Barmherzigkeit;
er will sich selbst mit uns verbünden
und wird uns tragen durch die Zeit.

Predigtteil III
Gehaltene Zeit
Gott weiß, gehört, hat die Zeit. Sie steht ihm gegenüber. Aber wie alles, was er geschaffen hat, entspringt es seiner Liebe und ist Moment seiner Liebe. So auch die Zeit. Sie entspringt seiner Liebe und ist Augenblick seiner Liebe. Als Ausdruck seiner Liebe wird die Zeit zum Anspruch an uns, Gottes Liebe wartet auf unsere zeitige Antwort. Als Zeit seiner Liebe wird Zeit aber auch für uns lebbar und die Verheißung erfüllender Zeit liegt auf all unseren Minuten, Stunden, Tagen.
Gott umgibt unsere Zeit. Er nimmt sich  Zeit für uns. Er trägt uns durch die Zeit. Unsere Zeit ist in Gottes Liebe gehalten. So können wir all unsere Zeitübergänge, wie den heute Nacht, begehen, gesichert und immer mit einem Vorschuss an Verheißung, an „es wird gut gehen“. Er hält das nächste Jahr wie das vergangene in seinen Händen, dort ruht es und er nimmt diese Zeit, die in seinen Händen mit viel Liebe gefüllt wird, er nimmt sie sich für uns und schenkt sie uns versehen mit dem Abglanz seiner Ewigkeit.

Sein Zeitgesicht
Seine Zeit bekommen wir, wie wir sie schon immer bekamen, um sie als seine Zeit zu leben, unsere Zeit sein Antlitz zu geben, das Versprochene zu erfüllen. Alles liegt in ihr immer schon bereit.
Unsere Zeit möge zur Brot-Zeit für uns und andere werden, Zeit, die untereinander geteilt wird, sich unverhofft vermehrt, sich auftut, verbindet, die uns gegenseitig an unseren Seelen nährt und erfüllt. Sie möge Herzen-Zeit werden, die Raum hat und lässt für Sekunden angefüllt von Freundlichkeit und Barmherzigkeit, Minuten und Momente, die mitten in den herzlosen Schnelllauf unserer Zeit ein Stück Ewigkeit finden lassen.  Sie möge sein Angesicht tragen, eines das aller unbestimmten Zeit sein Aussehen gibt, sein Zeitgesicht.
Dann werde die kommende Zeit zu seiner Zeit in unseren Händen. Wir werden auch ohne eigene Zeit um die Liebe Gottes in der Zeit wissen, dass wir ihm gehören und er uns treu und immer hält. Wir werden die von ihm gewährte Zeit mutig leben, und die Ewigkeit in ihr heraus nehmen, leben und dankbar sie mit ihm für andere füllen. Wir werden am Anfang und am Ende jeder unserer Zeitabschnitte ihn als Mitte spüren und still und gemeinsam manchmal laut ihm sein Lob singen.

EG 36, 12. Ich will dich mit Fleiß bewahren;
ich will dir leben hier,
dir will ich hinfahren;
mit dir will ich endlich schweben
voller Freud ohne Zeit
dort im andern Leben.

EG 325, 1. Sollt ich meinem Gott nicht singen?
Sollt ich ihm nicht dankbar sein?
Denn ich seh in allen Dingen,
wie so gut er’s mit mir mein’.
Ist doch nichts als lauter Lieben,
das sein treues Herze regt,
das ohn Ende hebt und trägt,
die in seinem Dienst sich üben.
Alles Ding währt seine Zeit,
Gottes Lieb in Ewigkeit.

Sonntag, 22. Dezember 2013

Kostbares tragen



Predigt am 1. Christtag 2013 (25.12.13)

Fliehen
Zerschlissene Kleider. Ausgemergelte Gesichter. Barfuß. Zusammengepfercht zu Hunderten. In alten Zelten, in notdürftig aufgebauten Hütten, in Sammellagern. Bilder von Flüchtlingen, ob in Syrien, vor Lampedusa oder auf den Philippinen. Und mit ihnen auch die Bilder, warum sie fliehen mussten, die Bilder von Krieg, von Gräuel, von Naturkatastrophen. Die Flucht: notgedrungen, überstürzt, ungeordnet, mit letzten Hab und Gut, ohne alles, mit dem Tod anderer im Kopf und mit dem eigenem Leben in der Hand als letzter Ausweg: irgendwohin, nur weg, weg vom Unheil.
Und die Flucht hat im Aufnahmelager, hat auf dem Schiff im Mittemeer, hat in den Übergangswohnheimen kein Ende. Sie setzt sich fort, in unseren Köpfen, in unserem Geldbeutel, in Fragen, ob all die Flüchtlinge aufgenommen werden können, wo sind denn alle wohnen können, wie wird das bezahlt. Die Flucht setzt sich fort in den Flüchtlingen, sie setzt sich fort mit solchen Fragen, mit dem mühseligen, schwierigen Versuchen, in der Fremde bei Menschen, die anders denken, glauben, leben, Fuß zu fassen, anzukommen, sich zurechtzufinden, so etwas wie Heimat zu suchen.
Manche von Ihnen waren auch schon mal auf der Flucht. Vor fast 70 Jahren und Ihnen steckt noch im Kopf und in der Seele, dass Sie fliehen mussten, dass sie vertrieben wurden, dass sie hin- und hergeschoben wurden, bis endlich erst dort und dann hier wieder ankamen und nach und nach heimisch wurden. Neben Ihnen und denen, die aus der ehemaligen DDR flüchteten, kennen wir Flüchtlinge und Flucht bei uns eigentlich nicht. Vielleicht sind wir ab und zu noch als Kinder vor irgendetwas geflüchtet, aber das schon länger nicht mehr. Heute muss man eher seinen Mann oder seine Frau stehen, aushalten, sich durchboxen, die Ellenbogen benutzen und zum Angriff übergehen. Fliehen, Wegrennen, Davonlaufen tun wir aber trotzdem, innerlich, nach innen hinein, emigrieren, verkriechen, verstecken, stumm sein. Vielleicht ist der Mensch doch ein Fluchttier.

Geflüchtet
Das Jesuskind ist auch geflüchtet. Es wurde sozusagen geflüchtet. Kurz nach seiner Geburt konnte es selbst nicht fliehen. Im Traum hat es der Engel seinem Vater gesagt und Josef nahm das frischgeborene Kind, packte es ein, legte es vielleicht auf einen Esel und floh mit ihm, nein floh für ihn; er floh mit ihm vor Herodes, der in Jesus einen neuen konkurrierenden König sah und ihn aus dem Weg räumen wollte. Die junge Familie flüchtete nach Ägypten, ausgerechnet in das Land, aus dem das Volk Israel geflüchtet war, das Land, das Gefangenheit und Knechtschaft bedeutet. Heimat sieht anders aus. Als Herodes, der Kindermörder selbst gestorben war, kehrten Josef, Maria und Jesus wieder zurück und kamen nach Nazareth, von wo sie vor der Geburt Jesu aufgebrochen waren.
Jesus war gleich nach seiner Geburt ein Flüchtling. Seine Flucht gehört zu seiner Geburt und zu unserem Weihnachten. Aufhören, weiter zu erzählen, weiter zu hören, ausblenden geht nicht. Die Fluchtgeschichte Jesu gehört dazu, wie die Bilder der Flüchtlingen, die Flüchtlinge selbst dazugehören zu unserem Weihnachten. Das Heil ist doch nicht auf unser Weihnachten beschränkt, es kennt keine Schranken. Alle Flüchtlinge, alles, was auch in uns fliehen muss, möchte, hat Anteil an der einen Fluchtgeschichte Jesu, so wie an seiner einen Geburtsgeschichte:

In bitteren Gesichtern Jesus sehen
Jesus muss flüchten. Sein Leben wird bedroht. Von Herodes. Warum lässt Gott seinen Sohn gefährdet sein? Warum legt er auf unser Weihnachtsfest diesen Todesschatten? Ein Warum an Gott, das sich durchzieht bis an Kreuz von Jesus, das sich auch stellt, wenn Krieg, Hunger, Katastrophen, Unrechtregime Menschen nach dem Leben trachten und sie zur Flucht treiben.
Es ist eine Teil-Flucht Gottes mit all diesen, eine Teil-Ohnmacht Gottes, die schier unerklärlich ist.
Jesus flüchtet. Es geht um sein Leben, um Tod oder Leben. Es gibt keinen anderen Weg. So bitter es ist, manchmal muss man flüchten. Wenn es um unser Leben geht, ums nackte Überleben unserer Seele, dann müssen wir manchmal fliehen, dann ist Flucht, das was uns manchmal nur übrig bleibt, was noch unser Leben retten könnte, unser so kleines, verletzliches Leben wie das des Jesuskindes. Und wie bitter ist es dann, wie Josef in der Fremde, abzuwarten, bis, bis man wieder aufleben, zurückkehren, weiterleben kann.
Jesus flüchtet und er wird bewahrt. Das ist bei allem Warum und Warten die Summe der Geschichte. Das Ende der Flucht. Er wird auf Umwegen bewahrt, getragen als Gottes Kostbarstes, bewahrt durch Traum, durch Engeln, durch Josef. Es ist eine Bewahrungsgeschichte, an der wir weitererzählen, die wir weitertragen:

Einander Engel werden, vielleicht nicht prophetisch die Gefahr voraussehen und den Weg weisen, aber Engel in Menschengestalt sein, wissen, wie lebensbedrohend Flucht ist, wie geschunden und geschupst Flüchtlingen werden und überlegen, wie Lebensraum, Heimat, eine Wohnung, eine Bleibe geschaffen, bereitgestellt werden können. Ja selbst das tun! Einander Menschen werden, wie Josef: Die Menschen, die flüchten müssen, tragen, stützen, vielleicht nicht auf der Flucht, aber beim Versuch, in der Fremde, hier, Fuß zu fassen, anzukommen, heimisch zu werden. Einander Christus werden: Jesus selbst war und ist ein Flüchtling, damals gleich nach der Geburt und immer wieder. Er teilt das mit allen, die flüchten müssen. In Flüchtlingen Jesu Geschichte der Flucht nach Ägypten hineinlesen, in den Flüchtlingen Grundzüge seiner Flucht erkennen, in ihren ausgemergelten Gesichtern seine Gesicht sehen und sie im Lichte von Weihnachten das ganze Jahr kostbar achten. Amen.

Zur Nacht



Predigt zur Christmette 2013 (24.12.13)

Besonders
Heiligabend, Weihnacht. Eine besondere Nacht. Ein besonderer Abend. Heute. Jetzt. Eine besondere Nacht im Meer als unsere Nächte, der vielen, unzähligen, erlebten, der normalen und mancher besonderer Nacht, besonders für uns, besonders schön, schwer, einsam, gemeinsam, tief und wach. Besonders geworden für uns wie damals, wie damals für die Hirten die eine Nacht zur Nacht der Nächte wurde. Als sie des Nachts ihre Herde hüteten, sich für sie der Himmel öffnete, Engel ihnen die Geburt des Retters sagten, sie zur Krippe kamen, ihr Leben neu entdeckten, das Wort davon ausbreitete und wieder zurückkehrten. Sie werden diese eine Nacht nie vergessen. Sie wurden andere, andere als vorher, andere Menschen als vor jener Nacht, die eigentlich zuerst nur eine von vielen Nächten war.
nachts
Ruhig und still ist es nachts, soll es sein, immer ruhiger, weniger schnell, weniger betriebsam. Der Abend soll darauf vorbereiten, zur Ruhe kommen, den Tag abschließen, letzte Dinge machen, zu Bett bringen, Gute-Nacht-Lieder singen, vorm Fernseher einschlafen, zu Bett gehen. Die Nacht ist eigentlich zum Schlafen da, zum Ausruhen, zum Entspannen, zum Kraft schöpfen.
Vielleicht deswegen soll es nachts dunkel sein, liegt auf allem ein dunkler, manchmal grauer Schleier, ist Abend die Zeit nach dem Sonnenuntergang und schließen wir im Bett wie aus Sicherheit die Augen, damit es um uns wirklich Nacht, dunkel werden kann, alles klingt etwas verzerrter, dumpfer, bis endlich gefunden wird, was man sucht: Den Schlaf.
Aber wie oft kommt er nicht, soll er nicht kommen oder später. Wir vertreiben uns den Schlaf, machen aus der Nacht ein Stück vom Tag, leuchten die Dunkelheit aus, machen Geräusche, ziehen uns um und gehen nach draußen und leben die Nacht, vertagen den Tag bis ins Morgengrauen. Gezähmt haben wir fast alle Gefahren der Nacht, Dunkelheit ist schon lange Licht, und still wird es nie. Nur manchmal kommt die Nacht wie ein Dieb und nimmt uns grausam Atem und Leben.
Im Bett nachts sind wir empfänglich, vor dem Schlaf und im ihm. Empfänglich für Liebe, für Träume, für ungedachte Gedanken, für Angst und Schrecken, Sorgen, Pläne, Hoffnung, Bilder. Als würde das Leben und sein Tag einfach nicht halt machen an unserem Bett, in unserer Nacht, sondern uns Schlafende bevölkern wollen. Als würde alles äußere Leben nachts als inneres wiederkehren und wir lebten in der Nacht einen Tag nochmal, anders.

Nachtgeboren
In die Nacht hinein ist Jesus geboren, ist Gott geboren. Für die Hirten damals, mitten in deren Nacht hinein, unverhofft, das Leben verwandelnd. Jetzt in dem Moment, in dem selbst Nacht ist, Heiliger Abend, Weihnacht, ist Jesus geboren, hineingeboren in unsere Nacht, in all unsere Nächte, unverhofft garantiert, in die schweren wie in die leichten, in den tiefen wie in den wachen. Diese eine Geburt, die gilt unseren Lebensnächten. Wie empfänglich sind wir in so vielen Nächten, vielleicht schlaftrunken, nimmermüde, wird die Nacht zum inneren Leben in uns. Durch jene eine Nacht sind wir auch empfänglich, empfangen wir in jeder unseren Nacht auch den einen, Jesus, in all den Träumen, Sorgennächten, in allen kurzen Schlafes Stunden, in aller unruhigen Ruhe will Gott sich uns geben und wir können ihn empfangen, nachts, wo er geboren wird:
Er bringt Licht ins Dunkle, in die schlimmen Träume und zu großen Sorgen, in all Wälzen der Gedanken, das Abwägen, Versinken ins nächtlich Aussichtslose, in finstere Problemberge. Er spricht in die manchmal schlimme Stille in uns: Fürchte dich nicht. Er sucht nach Auswegen aus der Angst, aus der Angst um unser Leben und um das Leben unserer Lieben, spricht gegen die Furcht vor dem Morgen, den Gespenster der Nacht, dem Pfeifen im dunklen Wald, vor manchem Nachtmonster, das ganz klein kam und wir nicht mehr losbekommen. Er bewegt uns nachts nach Bethlehem im Schlaf, vom dunklen Feld des Lebens hin zur seiner lichten Krippe, weg von allem, was uns bedrängt, hin zu ihm: uns zu ihm zu stellen, uns zu ihm zu setzen, uns zu ihm zu legen. Vielleicht schlief einer der Hirte selig erschöpft neben dem Kind in der Krippe ein. Ein ganz anderer Schlaf. Eine ganz besondere Nacht. Amen.