Freitag, 10. Februar 2012

„Aufgelöst“

Predigt an Sexagesimae (12.2.2012)

2. Korinther 12, 1 Gerühmt muss werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn. 2 Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es auch nicht; Gott weiß es –, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel. 3 Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es –, 4 der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann. 5 Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit. 6 Und wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich nicht töricht; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört. 7 Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. 8 Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche. 9 Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne. 10 Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.

Körperlos
Ein eigentümlich starkes Erlebnis: Raum und Zeit verschwimmen, zumindest für Sekunden, eine Zeit lang. Sich wie entrückt, wie versetzt fühlen. Ganz man selbst sein, aber dennoch nicht ganz hier, sondern woanders, bei dem, was man in sich nimmt, sieht, hört, hat. Die Sprache der Engel hören, wie himmlische, friedvolle, erfüllende Töne, Bilder. Sich kurz wie im Himmel, wie im Paradies sehen, Gottes Nähe spüren, so nah, so bei mir, dass Gott wie einer von Angesicht zu Angesicht ist. Still befreit, enthoben, von sich selbst, aber ganz bei sich, ganz bei Gott, man selbst schwerelos, emporgehoben, körperlos, leicht.
Entrückte Momente, Gewissheitssekunden, als würde man für Augenblicke den Kopf in den Himmel recken. So etwas hat Paulus wohl erlebt. Für sich.


Aufgebaut
Entrückte himmlische, Gott nahe Momente. Menschen aber bleiben, sind immer auch gebunden an Erde, an all die anderen Momente, die höllischen, die normalen, die alltäglichen, gebunden an ihren Körper, seine Ausformungen, seine Beschränkungen, seine Gestalt, an sich selbst.
Sich selbst rühmen, loben, stolz sein, mit sich prahlen, sich überheben, sich selbst über anderes und andere emporheben, sich ganz toll finden – da sind Menschen auch ganz bei sich, ganz und gar, aber nur bei sich, als würden wir Mensch sich selbst anschauen, sich an sich wie satt sehen, fast berauschen. Als nähmen wir uns selbst, als bauten wir uns selbst mächtig auf und stellten uns vor alles hin: das Ich massig und massiv. Das, was wir sind, wer wir sind, tun, machen.
Wir sprechen nur noch uns, wir drücken nur noch uns aus, wir sind nur noch wir selbst, unser Selbst, Körper, Gefühle, Wille, Gedanken, nur unsere Welt und verstellen massiv alles, was sonst noch ist, sein könnte, sein möchte – in uns, um uns, zu uns, für uns. Solchen ist Paulus wohl begegnet.
  
Dünnhäutig
Paulus aber hat selbst an sich selbst gesehen, wie rissig, wie zerbrechlich Körper und Leben sind, wie sehr menschliches Leben einem Gefäß gleicht, das voller kleiner Risse und Löcher ist, wie schnell, wie plötzlich, wie unerklärlich Menschen verletzen und verletzt werden, offene Wunden und Fragen haben, wie hinfällig Vorhaben, Idee und Versprechen sind, wie gefährdet wir sind durch das, was uns immer wieder widerfährt, sich uns ins Leben schreibt, mal mit unerbärmlichen Schriftzug.
Das sind schon Fäuste des Satans, etwas, was uns so schwer und dunkel aufgegeben ist, uns wie schlägt, dass wir uns an ihm abarbeiten, immer am Rande des Scheiterns. Das ist wie ein Pfahl im Fleisch, schmerzliche, in unser Leben reingestoßen: Sorgen, Probleme, drängende Fragen, Selbstzweifel.
Dünnhäutig sind Menschen, auch wenn sie über all die Jahrtausende gelernt haben, Schutzfilm um Schutzfilm auf sich aufzutragen, dass ihnen nichts mehr wehtut, in sie tief zur Seele dringt. Dünnhäutig unter all den Mänteln und Kleidern, die uns schützen, wärmen und schön machen, die uns aber auch etwas zudecken, und manchmal zu mehr werden als sie sind.

Dünnhäutig wie jener einzigartige, von Gott abgründig tief geliebte Mensch Jesus. Jesus: dünnhäutig gegenüber denen, die am Rande lebten, die Sehnsucht hatten nach Leben, nach Gott. Dünnhäutig für die Worte Gottes, für eine ganz andere Vision von der Welt, vom Menschen, von Miteinander. Dünnhäutig für wahre Liebe. Dünnhäutig, weil verhöhnt, geschlagen, angespuckt auf dem Weg zum Tod. Dünnhäutig, weil Gott ihn im Grab nahm und den toten Jesus wieder den Lebensatem in die Glieder und die Seele blies.

Durchlässig

Das, was wir in der Begegnung mit Gott, in seiner Nähe, erleben. Was in unserer kleinen Entrückung in uns bleibt. Was durch unsere Lebenshäute hindurch kommt. Diese uns geschenkten Gottesmomente. Seine wunderbaren Ablichtungen in unserer Seele, die uns innerlich für bestimmte Zeit sichern, emporheben, die wir weder machen, noch deren wir uns selbst rühmen können – all dies, der Himmel möge Ausdruck in uns finden.
Menschen mögen durchlässig werden für göttliche Momente und andere mögen in ihnen, an ihnen, an ihrem Körper, an ihren Worten, an ihren Gesten, an ihren Gedanken Gott selbst und seine Liebe ablesen, erscheinen sehen. Das geschieht nicht nur an Paulus oder an ganz besondere Menschen. Das kann, will an uns geschehen:
Du und ich werden transparent auf den, der uns selbst mit seiner Liebe füllt.
Es mag helfen, wenn Menschen sich selbst zurücknehmen, nicht massiv nur sich selbst sind und allen Raum um sie zu machen, wie verstellen, abdichten; wenn Menschen dünnhäutig sind, nicht empfindlich, aber empfindsam sind, um ihre Lebensrisse, die kleinen Tragödien wissen, um die biographischen Löcher, so dünnhäutig, dass durchlässig, wie etwas heilsam porös für Gottes Liebe, selbst heil geliebt von ihm und selbst Liebe ausstrahlen, bescheiden.
Menschen wie wir. Himmlisch beseelt, durchlässig, von Gott liebevoll hoch gerühmt. Amen.

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