Predigt
für den 4. Sonntag nach Trinitatis
(28. Juni 2015)
Lukas 6, 36-42
Seid barmherzig, wie auch euer Vater
barmherzig ist. Und richtet nicht, so
werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt.
Vergebt, so wird euch vergeben. Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles,
gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben;
denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen. Er sagte
ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg
weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn
er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister. Was siehst du aber den Splitter
in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Wie
kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus
deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du
Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den
Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!
Spiegel
Mit diesen Worten hält Jesus einen Spiegel
vor. In einem Spiegel – so meint man –
da sieht man sich, wie man wirklich ist, manchmal mit Schrecken, manchmal mit
Freuden. Was sehen wir, wenn wir in den Spiegel blicken?
Spiegel begegnen uns in unserem Leben auf
Schritt und Tritt. Im Auto: Der Rückspiegel; ganze Ladenpassagen in
Großstädten; in Kaufhäusern. Bei uns zu Hause: Sicher im Badezimmer, im Gang bei
der Garderobe, im Schlafzimmer und viele haben einen kleinen Spiegel in der
Handtasche. Wir schauen uns am im Spiegel morgens beim Zähneputzen oder
Rasieren, abends beim Abschminken; wir schauen verschlafen rein, drücken
Pickeln bewundern unsere neuen Kleider, zupfen uns zu recht, perfektionieren
unsere Frisur, regen uns über Haarwirbel auf; entfernen Schlafmännchen, ziehen
den Lidschatten nach, ärgern uns über Falten und Fettpolster, über Flecken auf
Hemdkragen und Bluse.
Bei alle dem, bei all den vielen flüchtigen
Blicken in den Spiegel: Schauen wir im Spiegel uns – uns! – wirklich an?
Sozusagen Augen in Auge, trauen wir uns das, den nackten Tatsachen unseres
Lebens zu stellen? Wirklich in den Spiegel zu sehen und uns zu sehen, wie wir
wirklich sind, was da uns a gelebten Leben entgegen schaut? An dem, was wir
getan haben, zu tun gedenken, und so sehen wir mit im Spiegel irgendwie unsere
Geschichte und wir sehen im Spiegel auch all anderen, irgendwie unsere ganze
Welt mit uns im Blick.
Fenster
Manchmal stehe ich am Fenster und schaue –
vielleicht nur kurz - raus; an einem belebten Tag; schaue mir die Menschen an,
die die Straße entlang gehen, die mit ihren Auto vorm Bäcker halten, die
hastige Sprechstundehilfe; die laut schreienden Kinder, die älteren Leute, die
zum Arzt gehen. Ich schaue aus dem Fenster und sehe, wie sie unbeobachtete ganz
normal sind, Werktagsmenschen, halb in Eile, nicht extra zurechtgemacht.
Ich schaue sie an: Manche gehen ganz
aufrecht und ich denke mir, ob die immer so sind. Manche gehen gebückt, haben
den Kopf zur Erde gesenkt, und ich frage mich, was ist denen denn passiert? Ich
schaue sie mir an, ein bisschen in sie hinein und denke mir ihr Leben: Was für
Erfahrungen haben die wohl gemacht? Welche schmerzliche, bitteren, leidvollen. Wie
führen die ihr Leben und was ist bei ihnen schlecht gelaufen. Und dann denke
ich mir: Vielleicht verbirgt sich hinter der einen oder dem anderen auf der
Straße, jemand, der seit Jahren schwer an etwas trägt, der sich für einen
Moment hinreißen ließ, der mutwillig war, der schuldig ist oder jemand der ohne
Schuld sich mit Dunklem beladen hat und das nicht mehr loskriegt.
Und aus den Menschen auf der Straße wird
eine merkwürdige Gemeinde, eine Gemeinde auch aus Sündern: Aus Menschen, die weder besonders groß noch
klein sind, die weder besonders gut noch böse sind, sondern Menschen, die davon
leben, dass man ihnen vergibt, eben eine Gemeinde aus Sündern. Menschen, die es
brauchen, dass sie nicht verurteilt oder verdammt werden, die es nicht
brauchen, dass ihnen vergelten wird oder sei noch etwas genommen wird, die
andere Menschen brauchen, die nicht über sie hinwegschauen, sie richten und
verurteilen, andere Menschen, die selbst wissen, dass sie gebrechlich sind, und
die sich deshalb anrühren lassen, vom Hässlichen, von Fehlern und Sünde und
bereit sind, nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten, sondern zu vergeben. Menschen
brauchen andere Menschen, die barmherzig sind, die im Herzen klagen über Unglück
und Elend, großes wie kleines, die sich angehen lassen, vom Leid und mitleiden.
Gottes Vision
Schauen wir in diese kleine Welt durch
Fenster, schauen wir in unseren Spiegel. Wir können uns selber sehen, sehen als
Menschen, die genau das brauchen, dass man barmherzig zu ihnen ist. Menschen,
die Fehler machen, die Sünden begehen, die um ihre Würde kämpfen, die fehl
gehen und schuften und Heil wie Heilung suchen. Menschen, so wie wir und andere
eben sind: irgendwie furchtbar groß und herrlich und doch immer auch furchtbar
elend und klein; Menschen die nicht gerichtet noch verdammt werden wollen, die
nicht verurteilt werden wollen. Einfach Menschen, die mitten in ihrem Stolz
doch Vergebung brauchen, von Gott und den Menschen, die aus Vergebung leben.
Vielleicht können wir uns so ehrlich im Spiegel sehen, klein groß sehen.
Und wenn wir uns so im Spiegel sehen, können
wir leben, wie Jesu es sieht. Wer von der Vergebung lebt, kann vielleicht auch
vergeben; wer vom Erbarmen lebt, kann sich auch erbarmen.
Vielleicht können wir dann im Spiegel der
Barmherzigkeit nicht richten, nicht verdammen, vergeben und geben; erst den
eigen Splitter sehen und dann den im Auge des andern. Das sind keine ungeheuren
Forderungen, sondern der Geist Gottes, der in die Welt Einzug gewinnen will:
Es sind Visionen Jesu und Gottes, wie unser
Zusammenleben, wir eine Gesellschaft aussehen könnte, welche Werte wir durch
unser Tun hinein in die Welt bringen und dort bewahren, Werte, die ihren Wert in
sich, in dem haben, der sie uns spendet: in Gott. Werte, weil wir Gott wertvoll
sind und er unser leben möchte:
Die Vision einer Menschheit, in der nicht
gerichtet wird, in der nicht verdammt wird, in der vergeben wird und in der
jeder, was er braucht bekommt; eine Menschheit, wo Blinde und Sehende einander
führen und es Gruben zum Reinfallen nicht gibt; wo Jünger auf die Meister hören
und Meister Jünger Weisheit schenken; eine Menschheit, wo Balken und Spliter
aus den Augen verschwinden, alle wieder sehen; und man sich gegenseitig die Wunden
verbindet, die man noch hat, und heil wird.
So eine Menschheit, solche Menschen wären
für Gott, wenn er aus seinem Himmelsfenster auf uns blickt, ein Spiegel, ein
Spiegel, in dem er sich selbst gerne spiegeln würde, in dem er sich selbst
wirklich wieder erkennen kann. Amen.
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